Migration versus Sozialstaat? Ein Wahlproblem von AfD, Trump, FPÖ und Co.

Der Aufstieg der Rechtspopulisten bis Rechtsextremen in den letzten Jahren hat drei Ursachen: zum einen generell und schon sehr viel länger das Unbehagen an der Moderne, die ständische Ordnungen abschafft, das Individuum frei setzt und die Gleichheit aller Menschen zumindest behauptet. Konservative räsonieren darüber, aber machen mit. Rechtspopulisten und Rechtsextreme fordern eine Revolution von rechts und nach rechts. Dort wo sie gelang, wie im deutschen Nationalsozialismus, im italienischen oder spanischen Faschismus, war das Resultat grauenhaft und mörderisch, was aber bis heute einen Teil des rechten Personals nicht davon abhält, nach dem Guten im Bösen zu suchen, von der Autobahn bis zur Wehrmacht, wie zuletzt der AfD-„Denker“ Gauland. Nicht alle Rechtspopulisten und Rechtsextremen sind zugleich Rassisten, aber die Mehrheit und das heißt vor allem in Europa immer auch Antisemiten, Judenhasser, verhinderte Judenmörder und weil sich das hier nicht mehr gehört, soll das die arabische Welt an den Zionisten erledigen. Die zweite Ursache der rechten Welle ist die Globalisierung mit zwei Komponenten, der Durchsetzung des Marktprinzips und dem Bedeutungsverlust des Nationalstaats. Beides trifft die Rechten hart: sie hadern mit dem Marktprinzip, weil in ihm durch sein Normativ „Leistung“ eine grundlegende, wenn auch limitierte Gleichheit innewohnt – daran erinnern die Liberalen durchaus zurecht und übersehen, dass Leistung nie objektiv gemessen werden kann. Nicht weniger klagen die Rechten über den Verlust des Nationalen, in dem sie die neue Ordnung nach der feudalen Gesellschaft erkennen, die nationale Gemeinschaft wird als Volksgemeinschaft, als heiliges Russland oder als America first! beschworen, die durch Völkerrecht, EU und UN bedroht wird. Die dritte Ursache ist die Wohlstandsmigration. Ohne ein seit Jahren geschürtes Ressentiment gegen dunkelhäutigere, mediterrane Muslime, Schwarzafrikaner, Mexikaner und Türken im Besonderen, die nun ein drittes Mal vor Wien lauern, wären die Wahlerfolge des aktuellen Rechtspopulismus undenkbar. Von Wohlstandsmigration müssen wir wohl deshalb sprechen, weil eine befristete Kriegsflucht oder politische Verfolgung zumindest in Mitteleuropa aufgrund der eigenen Kriegs- und Unterdrückungsgeschichte nach wie vor auf große Hilfsbereitschaft stoßen. Warum aber tut man sich mit Wohlstandsmigration so schwer, warum scheinen sich in ihr alle drei Ursachen der rechten Welle, Modernekritik, Globalisierung und Migration geradezu zu vereinen und zu steigern?

Dazu lohnt der Blick in ein Buch, dass sich nicht zu kaufen lohnt und das doch in hoher Auflage verkauft wird. Es ist das Buch von Rolf Peter Sieferle, der sich – ganz sicher tragisch, aber eben auch verrückt – im September 2016 suizidierte. Bekannt wurde er in 2017 durch sein Buch „Finis Germania“, eine schwadronierende, völkische Katastrophenmalerei, die dank eines SPIEGEL-Redakteurs erst in eine Auswahlliste und dann auf die Bestsellerlisten gelangte. Es erschien in Schnellroda, im Verlag des Rechtsextremen Kubitschek, in der Reihe „Kaplaken“, die richtig „Kakerlaken“ heißen müsste. Für die deutsche und europäische Problemstellung dürfte aber sein zweites, posthum veröffentlichtes Buch noch relevanter sein: „Das Migrationsproblem. Über die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Masseneinwanderung“. Ich habe es bestellt, weil wir über Zukunft forschen und wissen müssen, was im rechten Sumpf gedacht wird. Aber dann war ich doch überrascht, wo es erschien: in einer Reihe namens „Tumult“ und diese wiederum, wie das Impressum weiß, in der „Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas Hoof KG“. Da wird einem doch anders, liegt doch an schöner Stelle der edle Katalog von Manufactum, das einst von jenem Herrn Hoof gegründet wurde, zuvor Landesgeschäftsführer der Grünen, ein ökologischer Hochpreisversender, der seit 2008 ganz von der OTTO-Gruppe übernommen wurde. Manufactum wie Hoofs Rechtsverlag residieren in Waltrop. Sieferle schreibt im Buch (auf Seite 25): „Den eigentlichen Todesstoß erhält der Sozialstaat jedoch durch die Massenimmigration unqualifizierter Menschen, die in den National-Sozial-Staaten ihr Glück suchen. Für die komplexe Anforderungen stellenden Arbeitsmärkte sind sie fast alle untauglich, und es würde mehrere Generationen dauern, bis sie akkulturiert bzw. assimiliert sind. Also werden sie vom Sozialsystem alimentiert, und zwar in enorm wachsender Zahl. Dies bringt jedoch die Sozialsysteme aus dem Gleichgewicht.“ Auf Seite 41 wird ökologisch nachgelegt: „Auch unter dem Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit ist die weitere Anfüllung ohnehin schon dichtbevölkerter Gebiete mit Immigranten ein sinnloser Akt. Der ‚Fußabdruck‘ eines Menschen ist in Europa größer als in Afrika. Die Immigration führt somit zu einer überproportionalen ökologischen Belastung, unabhängig davon, ob die Immigranten arbeiten oder eine Sozialstaatsrente beziehen. Dieser Prozess ist heute so weit fortgeschritten, dass der Untergang Europas, d.h. seine Islamisierung bzw. Afrikanisierung wahrscheinlich unvermeidlich ist. (…) Es wird daher zu schweren Konflikten kommen, wenn der zivilisierte Teil der Bevölkerung nicht mehr in der Lage ist, die eingewanderten Barbarenstämme durchzufüttern, die glauben, ein Recht darauf zu haben.“ Nun, Sieferle, Hoof, Kubitschek, Weidel, Gauland, Petry, Wilders, Strache, Berlusconi, Le Pen und andere der Neuen Rechten Welle dürften nicht zu diesem „zivilisierten Teil der Bevölkerung“ gehören, dann dazu gehört doch ein Mindestmaß an Bildung und Respekt gegenüber anderen Menschen. Insoweit war Sieferles Suizid ein verständlicher paranoider Akt und man möchte seinen Mitwellenreitern fast empfehlen, sich hier ein Vorbild zu nehmen. Diesseits des Sarkasmus zeigen solche Gedanken, die in hoher Auflage und hunderttausendfach verstärkt durch die sozialen Medien stürmen aber auch etwas an, was die wirklich Zivilisierten und Gebildeten ernst nehmen müssen: die Rechtspopulisten und Rechtsextremen haben intellektuell durchaus aufgerüstet. Mit der Alternativsetzung „Migration versus Sozialstaat“ besetzen sie ein Thema, vor dem sich Linke, Liberale, Grüne und Konservative durchaus drücken – auch weil sie Angst haben, vom rechten Gift angesteckt zu werden.

Natürlich sind Migration und Sozialstaat kein Widerspruch. Wer sich mit Sozialer Nachhaltigkeit beschäftigt, der weiß das. Das quantitative, materielle Wachstumsversprechen des „sozialdemokratischen Jahrhunderts“, wie Ralf Dahrendorf das 20. Jahrhundert nannte, in dem sich die Reichen und die (männlichen) Arbeiter in einem Pakt der Externalisierung zusammen schlossen: gegen die Natur und die armen Arbeiter in der dritten und vierten Welt, ist noch längst nicht am Ende. Man muss dazu nur über eine Autoausstellung flanieren oder die Werbeprospekte der Kreuzfahrtindustrie lesen. SUVs und Champagner satt sind nach wie vor der Traum der Massen und sie sind für viele realisierbarer denn je. Deshalb kann Angela Merkel für diese Vielen mit einem Deutschland werben, „in dem wir gut und gerne leben“. Die Lindner-Liberalen möchten den Externalisierungspakt zumindest für die Hipster weiterschließen, von Sozialstaat und Ökologie halten sie ohnehin nicht so viel. Die Sozialdemokraten halten Ökologie nach wie vor für sekundär, wie Martin Schulz im Fernsehgespräch mit der Kanzlerin durch Nichtnennung zeigte. Linke wie Grüne reden zumindest für beides, für Sozialstaat und Ökologie, nur in Sachen Migration taumeln sie. In dieser kulturellen Unübersichtlichkeit kann sich das rechte Gedankengift mit seiner menschenverachtenden Sprache viel zu ungehemmt ausbreiten. Es wird so schnell nicht vertrocknen. Wer Zivilisation will, muss die Ärmel hochkrempeln und Hirn mit Herz benutzen.

Nach der Bundestagswahl sollte dieses Wahlproblem endlich gelöst werden, muss die Spannung von Migration und Sozialstaat entspannt werden. Dazu gibt es gute Vorschläge, die besten stammen vom in Oxford lehrenden Paul Collier, bereits in seinem Buch „Exodus“ (2014) und im neuen, mit Alexander Betts verfassten „Gestrandet“ (2017) wird ein rationaler, ganzheitlicher Lösungsansatz beschrieben, der immer drei Stakeholder berücksichtigen muss: die Migranten, die Zuwanderungsgesellschaft und die Herkunftsgesellschaft. Alle drei haben berechtigte Interessen. Auf der kleinräumigen Ebene des deutschen Sozialstaats bedeutet Soziale Nachhaltigkeit schlicht auch, dass sich alle Beteiligten anständig, respektvoll verhalten müssen. Migranten, ob aus Russland, dem Kosovo, aus dem Irak oder Tunesien, die sich nicht nur nicht benehmen wollen, sondern belästigend, vergewaltigend, kriminell oder terroristisch orientiert sind, müssen gehen, entweder zurück oder in Strafanstalten, Abschreckung ist bei schlichten Gestalten unverzichtbar. Meistens handelt es sich bei den unzivilisierten Migranten um jüngere Männer, die „ihre“ Mädchen und Frauen zu Heiligen machen und die zivilisierten Mädchen zu Huren. Das klingt etwas deftig für einen wissenschaftlichen Kommentar, aber es ist leider allzuhäufig zumindest erlebte Realität. Die inklusive Sozialstaats-Kultur Europas ist gefährdet, wenn von den Anspruchsnehmern auf diejenigen gespuckt wird, die die Ansprüche realisieren. Wenn also Migrantenfamilien in Hartz IV alljährlich für jedes neue Kind eine vollständige Baby-Erstausstattung beantragen, die letzte hätten sie verschenkt. Dann ballt sich den Mitarbeitern in den Arbeitsagenturen in der Tasche die Faust, sie erzählen solche Geschichten herum, wie sie es auch vor zwanzig oder dreißig Jahren erzählt haben, damals über deutsche Arme, die ihnen „asozial“ vorkamen. Sie aber musste man hinnehmen, diese Armutsfamilien über Generationen, sie waren schon da. Wenn aber die Chance besteht, die Erweiterung des Kreises von Menschen mit Trittbrettfahrer-Willen via Zuwanderung zu begrenzen, dann werden auch gutwillige Liberale und selbst Linke verständlicherweise schwach, die Widerstandskraft gegen die Neue Rechte Welle sinkt. Die realen Probleme müssen daher gelöst werden, nachhaltig ist eine Gesellschaft im Sozialen nur, wenn jede neue Generation am Wohl der Gesellschaft interessiert ist, sie weiterentwickeln will, aber nicht nur ausnutzt oder gar bekämpft. Migranten sind willkommen, wenn sie an der Gesellschaft mitwirken, dann werden sie vom Gast zur Bürgerin und zum Bürger und dafür müssen beide Seiten etwas tun, realistischerweise aber diejenigen mehr, die dazu kommen wollen. Das ist nicht neu, ich bin selbst ein Kind von Vertriebenen, die protestantischen Schwaben machten es den Katholiken aus dem Osten nicht immer leicht. Die meisten Migrantinnen und Migranten geben sich Mühe bis zur Selbstverleugnung. Wer aber dazu kommt und nur Ansprüche stellen will, ohne zu geben, der sollte dann auch wieder gehen, das ist nicht Fremdenfeindlichkeit, sondern Realismus. Nur dann haben auch die eine gute Chance, die gekommen sind, um zu bleiben und so zu geben und zu nehmen, wie es die tun, die schon lange hier sind.

Phönix an der Asche – Grundeinkommen im Fernsehen

Am 27. Juni 2017 wurde im Fernsehsender phoenix eine „phoenix-Runde“ zum Thema „1000 Euro für jeden – Wie sinnvoll ist das Grundeinkommen?“ gesendet. Sie kann noch eine Zeitlang in der Mediathek des Senders angesehen werden: https://www.phoenix.de/content/2460954 – sicher keine argumentative Sternstunde der Grundeinkommensdiskussion, vielleicht sogar eine der schlechtesten, unangenehmsten Diskussionen zu diesem Thema, die ich erlebt habe. Dabei reiste ich in guter Hoffnung nach Berlin. Der frühere Vorstand der Bundesagentur für Arbeit und SPD-Politiker Heinrich Alt war angekündigt worden, ein vehementer Grundeinkommens-Gegner, aber immerhin mit Sachkenntnis von Arbeitsmarkt und Hartz IV. Zudem eine Redakteurin der Süddeutschen und Daniel Häni, einer der Initiatioren der Volksabstimmung zum Grundeinkommen in der Schweiz im Juni 2016. Doch im Studio war die Überraschung groß, Heinrich Alt hatte abgesagt, an seine Stelle trat Anke Hassel, die Wissenschaftliche Leiterin des WSI der Hans-Böckler-Stiftung der Gewerkschaften. Da ahnte ich: es wird nicht leicht, hat sie doch vor einigen Monaten in der Süddeutschen unter dem Titel „Süßes Gift“ eine Tirade gegen das Grundeinkommen abgefeuert. Und statt der Redakteurin der Süddeutschen tauchte mit Ulrike Herrmann eine taz-Redakteurin auf, die von Abgewogenheit nicht so viel hält, wie sie mit einem Beitrag zum finnischen Grundeinkommens-Modellversuch belegte. So nahm die Runde ihren Lauf. Die Moderatorin Anke Plättner gab sich wirklich Mühe. Aber wie soll man diskutieren, wenn ein Teil der DiskutantInnen schlicht argumentfrei argumentiert? Am Ende war ich wirklich geschafft und nicht zufrieden. So jedenfalls geht Diskurs nicht. Aber wie dann? Ein Blog kann die Diskussion nicht ersetzen, aber ein wenig kleinen Raum zum Nach-Denken anbieten.

Zunächst ein Wort zu Daniel Häni. Er veröffentlichte jüngst ein „Manifest zum Grundeinkommen“ unter dem schönen Titel: „Was würdest du arbeiten, wenn für dein Einkommen gesorgt wäre?“ Sein Auftritt war klar. An Sozialpolitik, am Wohlfahrtsstaat ist er nicht interessiert, es gibt ihn, das ist gut, aber darüber nachdenken ist nicht sein Beritt. Was er will ist Macht, Ermächtigung für alle, das referendumsdemokratische Prinzip der Schweiz soll auch auf eines der beiden Kernfelder des Kapitalismus ausgeweitet werden, auf den Arbeitsmarkt. Arbeitnehmer sollen Nein sagen können. Das andere Feld, Privateigentum, Profite und Ungleichheiten interessiert ihn weniger. So wirkt sein durchaus herzerfüllender Auftritt merkwürdig wirtschaftsliberal. Die beiden Diskutantinnen hätten das angreifen können. Doch sie taten es nicht. Sie interessierten sich schlicht nicht für die Idee des Grundeinkommens.

Die beiden konzentrierten sich vor allem auf dessen Finanzierung, Anke Hassel zusätzlich noch auf Arbeitsmarkteffekte. Leider begann beider Kritik auf dem Niveau eines Stammtisches: 1000 Euro im Monat mal 82 Millionen Deutsche mal 12 Monate, also kostet das Grundeinkommen eine Billion Euro. Wer soll das bezahlen, wenn der Bundeshaushalt 2017 nur 329 Milliarden Euro umfasst? Die Gegenfrage musste lauten: wer fordert denn so etwas? Ich stellte sie, aber von da ab befanden wir uns auf rutschigem Boden. Denn es stellte sich heraus, dass es den beiden Grundeinkommensgegnerinnen nicht um eine wissenschaftlich gestützte politische Diskussion ging, sondern um eine Meinungsrunde. Der eine meint was. Die andere auch. Aber leider fehlte hier der Alkohol, der vage Diskussionen in wohligen Nebel einzuhüllen vermag. Andererseits: auch ich muss mich an die Nase fassen. Denn auf die Finanzierungsfrage war ich schlicht nicht vorbereitet. Vor gut zehn Jahren hatte ich mit Wolfgang Strengmann-Kuhn und Bruno Kaltenborn ein Finanzierungsgutachten zum Grundeinkommensmodell des damaligen CDU-Ministerpräsidenten von Thüringen, Dieter Althaus erstellt, das auch vom Sachverständigenrat gründlich diskutiert wurde. Über die Kosten des Grundeinkommens lässt sich nur ernsthaft diskutieren, wenn man weiß, über welches Modell man spricht – ähnlich übrigens auch, wenn wir über die Kosten eines „Autos“ sprechen oder eines „Hauses“ oder eines „Rentensystems“ oder „Gesundheitssystems“. Das hätte ich sagen müssen oder vielleicht sogar eine vorbereitete Kostengraphik aus der Jacket-Tasche ziehen, alle überraschen und damit zum Schweigen bringen. Natürlich ist ein Grundeinkommenssystem finanzierbar, wenn wir es so anlegen, dass die vorhandenen Geldflüsse darin integriert werden. Vor noch etwas mehr Jahren habe ich deshalb die Idee einer „Grundeinkommensversicherung“ entwickelt und ihre Kosten überschlägig kalkuliert. Die Staatsquote in Deutschland ist seit Jahren gestiegen, 2016 lag sie, die Ausgaben der Gebietskörperschaften und der Sozialversicherungen kombiniert, bei 44,3% des BIP. In absoluten Zahlen waren das 1.387,8 Milliarden Euro. Um sich bei diesen Zahlen nicht zu verirren, muss man schon genau sagen, wie man ein Grundeinkommen will.

Anke Hassel brachte als Gewerkschaftswissenschaftlerin ein auf den ersten Blick starkes Argument ins Spiel: Wenn es ein Grundeinkommen gäbe, dann würden die Arbeitgeber nur noch wenig Lohn zahlen wollen, denn die Arbeitnehmer hätten ja schon etwas. Natürlich brachte ich in der Diskussion das Argument vor, dass wir es in Deutschland nicht mit einem Arbeitgebermarkt zu tun haben, Ulrike Herrmann warf später, freilich ohne die Argumente zu verknüpfen, noch ein, dass wir gar kein Grundeinkommen brauchen, weil künftig händeringend nach Arbeitern gesucht werde, ihr Beleg war, dass die Bayerische Staatsregierung neuerdings ihren LehrerInnen Teilzeitanträge ausschlage, weil Lehrer fehlen. Nun zählen Lehrer nicht zu den grundeinkommensnahen Gruppen, aber dennoch: könnte es nicht doch sein, dass gerade Menschen mit geringen oder nicht gefragten Qualifikationen nach einer Grundeinkommensreform die Dummen seien? Auch hier staunte ich zunehmend ohne genau nachzudenken und vor allem, ohne selbst die passenden Argumente zu finden. Die wären zum einen: das gibt es schon heute. Schon heute stocken knapp eine Million ArbeitnehmerInnen in Deutschland ihr Arbeitseinkommen um Hartz IV-Leistungen auf, davon gut die Hälfte Fachkräfte. Doch schon die aktuelle Lage ist nicht einfach zu bewerten, denn der Mindestlohn hilft nur Vollzeittätigen mit wenig Unterhaltspflichten – und noch unklarer ist, wie sich der Arbeitsmarkt im armutsnahen Bereich angesichts von digitalisierter Arbeit 4.0 entwickeln wird. Zu denken geben sollte schon, dass Anfang der 1990er Jahre zwei Drittel der Beschäftigten in Deutschland unbefristet in Vollzeit arbeiteten, derzeit jedoch nur noch etwas mehr als die Hälfte. Wenn Ulrich Walwei, Vizedirektor des IAB der Bundesagentur, diese Entwicklung nicht wirklich beunruhigend findet, weil die Zunahme von Teilzeit- und prekär Beschäftigten „mit einer verringerten Zahl von Nichterwerbstätigen und Arbeitslosen verbunden war“, dann kann man das auch so interpretieren und die Bedenken von Anke Hassel entkräften (leider fiel mir das in der Sendung nicht ein): Die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer wurde durch Hartz IV nur insoweit geschwächt, als dass sie sich vor Sanktionen bei Nicht-Annahme unbeliebter Erwerbsarbeit fürchten, nicht jedoch durch die Arbeitgeber. Wenn also Menschen ohne Vermögen zur Existenzsicherung ihre Arbeitskraft anbieten müssen, dann wäre es gut, wenn sie frei darüber entscheiden können – und bei schlechten Möglichkeiten auch für ein bescheidenes Leben.

Das aber genau erschien Anke Hassel wie Ulrike Herrmann ein ganz unzulässiger Gedanke: wie kann man denn auf Hartz IV-Niveau – und wesentlich höher wird ein Grundeinkommen nie sein – von Freiheit sprechen? Ich dachte an meine Studierenden in Jena, sie sind zwischen 20 und 40, manche älter, und bei allen Befragungen zeigt sich, dass mehr als 90% von ihnen teils deutlich unter dem heutigen Niveau der Grundsicherung leben, samt Zuverdiensten, für die sie die Zeit am Studium abknapsen. Professoren und nationale Journalisten leben auf anderem Niveau, nicht wenige von ihnen haben keine Idee, dass auch Menschen mit wenig Geld viel Würde wollen. Die Diskussion war gelaufen und ich hoffte auf die nächste. Da wird alles anders. Ich lasse mich nicht mehr ärgern und ärgere niemanden.

Der große Vater? Zum Tod von Helmut Kohl

„Pater Patriae“, einen Vater des Vaterlandes, nannte Volker Zastrow in der FAZ den eben verstorbenen Helmut Kohl, in einem, wie mir schien, brillanten, respektvollen und wägenden Text. Einen besseren Vater als Bismarck, der zur Vaterlandsgewinnung mindestens einen Krieg benötigte. Helmut Kohl wollte genau das nicht, er wollte eine langfristige Friedensarchitektur der Politik. Deshalb Europa, die Europäische Union, der Euro, deshalb die deutsche Einheit, deshalb Vertrauen unter den Mächtigen, deshalb Respekt gegenüber den kleinen und kleineren Mit-Staaten. Freilich, seine Lust an der Macht, am Prozess des machtvollen Gestaltens selbst, hatte zumindest zwei Schattenseiten. Die eine war eine gewisse Ziellosigkeit, er war rheinisch-katholisch-konservativ, das war fast das ganze Programm und das sagte in turbulenten Zeiten noch nicht viel, man warf ihm das „Aussitzen“ von Konflikten vor. Nun kann eine programmatische Armut auch den Effekt haben, dass ein Politiker eher als Moderator handelt, dass er vielleicht sogar zu versöhnen versucht. Johannes Rau, ein Jahr nach Kohl geboren, doch elf Jahre vor ihm gestorben, sagte man genau das nach. Auch Rau lebte am Rhein entlang und war doch ein ganz anderer Politikertyp. Die andere Schattenseite bündelte Machtwillen und Programmarmut, es handelte sich um eine Demokratieskepsis, ein gewisses Grundmisstrauen gegenüber dem Wahlvolk, dem Demos der Demokratie.

Gerald Häfner, früher grüner Bundestagsabgeordneter und Europaparlamentarier, jetzt Leiter der Sozialwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, blickte mit kritischem Wohlwollen auf den Kanzler seiner Abgeordnetenjahre und erinnerte an einen im Nachrufchor bislang vergessenen Umstand: „(…) der Weg zur Herstellung der Deutschen Einheit war von dessen Müttern und Vätern im Artikel 146 des Grundgesetzes klar vorgegeben und hätte u.a. eine Volksabstimmung in Ost und West vorausgesetzt. Die Zustimmung wäre überwältigend gewesen. Doch aus Angst vor dem Präzedenzfall einer Volksabstimmung in Deutschland, die schnell Lust auf mehr (Demokratie) geweckt hätte, ließ Helmut Kohl den für das Saarland formulierten Verfassungsartikel 23 reaktivieren, der nicht die vorgesehene Vereinigung auf Augenhöhe, sondern einen schlichten Anschluss vorsah. An den psychologischen und politischen Folgen dieses falschen Weges zur Deutschen Einheit laboriert das Land noch heute.“ Eine Referendumsdemokratie nach Schweizer oder kalifornischem Vorbild war Kohl zuwider. Er telefonierte lieber den halben Tag mit der halben Welt, die ihn stützte, mit Kreisvorsitzenden und ihren Frauen, mit den großen und den kleinen Dienern der Macht. Vielleicht wäre er heute, im Zeitalter der Sozialen Netze und Medien im Internet, ein deutscher Donald Trump geworden, der schon morgens twittert, aus dem Auto, aus dem Bademantel. Andererseits war er zu klug für den dümmlichen Populismus, er verstand zu gut die Logik des Politischen, eben der reinen Macht. Er diskutierte gern, solange er wusste, dass am Ende der Diskussion kein Beschluss stand, der ihm nicht passte. Ein Machtmann.

Seine erste Frau, die er liebte und die er doch allein ließ wegen der Macht, die an Traurigkeit und Alleinsein starb, die Mutter seiner zwei Söhne, die kein gutes Wort mehr für sie bei ihm einlegen konnte, hätte auch daran gelitten, dass er sich mit ihnen überwarf, den Kontakt abbrach, seine Enkel nie sah. Dieses Familiendrama zeigt auch seine Unversöhnlichkeit, eben die Unfähigkeit zur Mediation, zur Demut. Der Verlust der Mutter zerbrach die Familie, noch 2001, als sein jüngster Sohn eine Türkin heiratete, hieß es: „Hannelore Kohl, die an einer Lichtallergie leidet, kann nicht zur Hochzeit nach Istanbul kommen.“ Nur zwei Monate später nahm sie sich das Leben, eine abgrundtief traurige Geschichte, vergewaltigt als Kind und als „Spendenhure“ beschimpft wegen des Betrugs-„Ehrenworts“ ihres Mannes. Dann sehe ich sein Gesicht, auf so vielen Bildern, und erinnere mich daran, dass mein eigener Vater ihm so ähnlich sah. Seit ich zwölf Jahre alt war, begleitete mich Helmut Kohl als Politiker, als Ministerpräsident, als Oppositionsführer, als Bundeskanzler, als Altkanzler. Wann immer ich ihn sah, sah ich auch meinen Vater. Und da war ich dankbar, dass ich einen anderen Vater hatte.

 

Traum und Gedanke

Welche Bedeutung hat Lyrik in Deutschland? Noch die Großeltern erinnerten Schillers Glocke vollständig. Die Reimlosigkeit der meisten modernen Gedichte macht die Erinnerung nicht leicht. Doch das allein dürfte den schweren Stand der Poesie nicht erklären. Vielleicht, so meine Vermutung, ist es gerade das Persönliche der Lyrik, was ihre Rezeptionsprobleme erklärt, obwohl doch scheinbar das Persönliche heute so öffentlich, so politisch ist wie nie, wo Soziale Medien, von Facebook bis Instagramm, fast alles offenbaren. Lyrik als Kunstform bleibt natürlich nicht persönlich, der Inhalt verbindet sich mit Form, nur dann ist es Kunst und dann verwandelt sich auch der Inhalt. Das schreibe ich auch deshalb, weil ich gerade selbst wieder einen kleinen Lyrikband veröffentlichte, „Traum und Gedanke“ sein programmatischer Titel, der dritte Band, fast schon eine kleine Reihe. Darf man das, als Wissenschaftler, als Hochschullehrer? Ist das nicht eine Grenzüberschreitung? Eines der Gedichte („Rastende“) widmet sich einem Band des britischen Hofdichts Ted Hughes, den „Birtday Letters„, einer traurigen Bilanz seiner Ehe mit Sylvia Plath, Ikone der feministischen Literatur. Die deutsche Übersetzung von Andrea Paluch und Robert Habeck erschien 1998, vor fast 20 Jahren, Robert Habeck, der heutige grüne Politiker und Minister war damals vor allem Autor, Übersetzer, ich schrieb es so: „der Minister aus dem Norden / und seine Frau hatten ihn übersetzt / sie waren jung“. Wir schauen mit jenen Gedichten in Abgründe und, wenn sie schön sind, dann werden es die Abgründe zwar nicht, der Inhalt bleibt bitter, aber die Form hilft. Wie persönlich darf  es sein? In einem anderen Gedicht („Hier bin ich“) sagte ich es so: „Das zweite Leben / … / das es nie gab und doch / sagte Foer so gut / es handelt von meinem Leben“, Jonathan Safran Foer hat das in einem Interview zu seinem neuen Buch so gesagt und es gefiel mir gut. Wir handeln immer von unserem Leben, auch wenn wir über Anderes sprechen. Nicht, weil wir die Welt konstruieren, auch wenn wir es ein wenig tun, und nicht nur, weil die Welt uns konstruiert, auch wenn sie es ein wenig tut. Sondern weil wir uns mitnehmen, weil wir nur mit unseren Augen die Welt sehen können, mit unserem Denken verstehen können, in alle unsere Beobachtungen unser Leben mengen. Wir Wissenschaftler wollen das nicht so gerne wahrhaben. Wir wollen ja intersubjektive Vergleichbarkeit, am liebsten den reinen Gedanken. Und doch träumen wir alle, nicht nur nachts, nicht nur im Tagtraum. Unsere Zukunft kommt nicht nur auf uns zu, sie wird von uns auch vorausgeträumt, wir wünschen sie uns. Und manchmal gehen die Träume in Erfüllung.

Das Buch kann in jeder Buchhandlung und in allen Online-Buchhandlungen bestellt werden, aber auch direkt bei BoD: https://www.bod.de/buchshop/traum-und-gedanke-michael-opielka-9783744816717

Lebenslanges Lernen – Mythenerhellendes großes Buch von ISÖ-Fellow Erich Schäfer

Prof. Dr. Erich Schäfer, Senior Fellow im ISÖ, veröffentlichte soeben im Wissenschaftsverlag Springer sein großes Buch „Lebenslanges Lernen. Erkenntnisse und Mythen über das Lernen im Erwachsenenalter“. Ein rundum gelungenes und vor allem verständliches Buch, hier mehr: http://www.springer.com/de/book/9783662504215

Erich Schäfer wirkt im ISÖ-Projekt „Zukunftsszenario Altenhilfe Schleswig-Holstein 2030/2045 (ZASH2045)“ als Moderator der Zukunftswerkstätten mit: https://www.isoe.org/projekte/laufende-projekte/zukunftsszenario-altenhilfe-schleswig-holstein-20302045/

Das Buch zeigt auch: Älterwerden hilft. Wenn man aufpasst.

Deutschland 2030 – Zukunftsforschung aktuell

Die Initiative D2030 um die ZukunftsforscherInnen Klaus Burmeister und Beate Schulz-Montag lancierte einen Online-Prozess zur Szenario-Entwicklung, der noch bis zum 30.5.2017 offen steht. Die Beteiligung dauert nicht lange und macht Freude: https://www.d2030.de/ Eine Zukunftskonferenz am 6./7. 7.2017 in Berlin kommt dazu.

La La Land – US-Kultur, Weltkultur

Jetzt endlich „La La Land“ von Damien Chazelle angesehen, erhielt immerhin sechs Oscars, wurde für vierzehn nominiert. Zuvor die Ungewissheit, ob es sich lohnt. Die CD mit der Filmmusik mehrmals gehört, ein wenig traditioneller Jazz, eingängige Balladen, illustrierende Orchester, einen Oscar gab es auch dafür, kein Mainstreampop, aber doch eher gefällig. Vielleicht doch die Hollywood US-Kultur, Jugendfilmkultur, Hauptdarsteller wie Emma Stone und Ryan Gosling, aus Mainstreamfilmen uns natürlich unbekannt, wer schaut schon „The Amazing Spider-Man“ oder „Gangster Squad“, wer möchte schon Zeit nur verbrauchen. Aber dann eben doch ein Abend in Los Angeles, der „City of Stars“. Er hat gelohnt. Nicht nur wegen der Tränen, die den Romantiker daran erinnern, dass das Leben zwischen Verpasstem und Gelungenem pendelt und so oft erst später, viel später klar wird, wozu die Entscheidungen rechnen, die wir treffen.

Es gibt einige gute Besprechungen dieses Films im Netz, die hymnische aus der „Zeit“ zum Beispiel, „auf die Narren, die träumen“ http://www.zeit.de/kultur/film/2017-01/la-la-land-musical-film-golden-globes-ryan-gosling-emma-stone/komplettansicht, ein Schlüsselszenensatz, denn hier feiert der junge Regisseur das weltzugewandte Träumen, das eingreift, das die Zukunft antizipiert und ihr dadurch den Weg bereitet. Alle berauschen sich in diesem Augenblick an diesem Ja zur Welt, das Ernst Bloch vor langer Zeit als „Prinzip Hoffnung“ untersuchte, wir freuen uns mit, das ist Amerika, der neue Tag.

Andere Beobachter sehen die Leidenschaft im Zentrum, den Kunstwillen, für den echten Jazz https://www.br-klassik.de/themen/jazz-und-weltmusik/la-la-land-film-musical-kritik-100.html Gosling spielt das unbeholfen, putzig, adoleszent, so waren wir damals, einige kannten alle Besetzungen aller Langspielplatten, noch heute spielt Götz Alsmann in „WDR3 Persönlich“ jeden Samstagmittag diese Rolle http://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-persoenlich-alsmann/index.html Kaum ein Filmkritiker würdigte das professionelle Parallelgeschehen im Film, das kundig-verzweifelte Vorsprechen der Schauspielerin, wie der Pianist im Nachspielen aller LPs übt, übt auch sie an Sprache, Gefühlen, Mimik. Hier feiert Chazelle die Kunst als Lebensform, die ohne Egoismus nicht aus dem Bett kommt und ohne soziales Ankommen, ohne Publikum, verdorrt. Ohne Rezeption bleibt Kunst ungekannt, nur Ausdruck. Kunst als Kunst ist Weltkultur, das sieht die Zuschauerin in Lagos, der Kinogänger in Tokyo.

Wieder andere sind ganz unzufrieden. Schon wieder ein Tanzfilm, in dem nur halb getanzt wird, schimpft eine Tanzkritikerin im Deutschlandfunk http://www.deutschlandfunk.de/film-la-la-land-es-ist-ganz-klar-ein-nostalgiefilm.807.de.html?dram:article_id=379984, und noch wütender giftet die halb-rechte „Welt“ über einen Bonbon-Kapitalismus https://www.welt.de/kultur/kino/article161101633/La-la-langweilig.html Sie haben nicht unrecht. Am Anfang des Films ist ganz unklar, ob hier schon wieder die Aschenputtel-Cinderella-Geschichte des Kapitalismus erzählt wird, die Trump erst möglich gemacht hat: Du musst gefunden werden! Die hübschen, teils schönen jungen Frauen bieten sich an, die Männer mit Geld oder dumpfen Geschichten wählen. Doch vor diesem Anfang beginnt der Film mit der schon berühmten Tanzszene auf Autodächern im Highway-Stau von Los Angeles, Dünne und Mollige, alle Rassen, Schöne und solche wie wir. Für kurze Zeit wird die Routine durchbrochen, zeigt die Welt ihre Möglichkeiten. Wunderbar.

Was bleibt, was hallt nach und ist deshalb nachhaltig? Es ist die Ambivalenz, die hier, wie in aller guten Kunst, nicht verschwiegen wird. Man muss hinhören. Warum scheitern die beiden Protagonisten in ihrer parallelen Professionsentwicklung? Liegt es wirklich nur am Kapitalismus, wie die „Abendzeitung“ wähnt: „Die kapitalistischen Zwänge beim (Über-)Leben, die man eingehen muss, um Lebensziele zu erreichen, gehen auf Kosten des anderen großen Ziels: der Liebe!“ http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.az-filmkritik-la-la-land-melancholisch-beswingt.b4e2f415-3ae0-415f-b8d9-867586d2a151.html? Da hat einer nicht so richtig hingeschaut. Das zeigt die Größe dieses kleinen, tanzenden Films: von Anfang umkreisten sich die beiden, entschieden sich nicht wirklich füreinander, begnügten sich mit Träumen. Als beide Erfolg spürten, saßen sie sich am hellen Tag unterhalb des Griffith-Observatorium gegenüber, er sah sie in Paris und sich auf Tournee, sie sah sein Nein, das zu ihrem trat, und ihre Angst davor, sich einem Mann hinzugeben, dessen Willen vor allem auf sich bezogen bleibt. Das ist das Schöne und Schwierige an der Liebe, zeigt uns der feine Film: sie braucht den Willen beider. Der Wille des Menschen ist sein Himmelreich, lobte einst Rudolf Steiner die Wirklichkeit, im Willen zeigt sich das Karma des Menschen, sein Schicksal. Deshalb die Demokratie, die soziale Lebensform des aggregierten Einzelwillens. Aber eben auch das Scheitern, die Scheidungen, die Fake-News, der Populismus des abgestumpften Willens ohne Einfühlung in die Zurückgesetzten. Ein guter Film.

 

 

Und dann und wann ein rosa Elefant – Martin Suter und die Gentechnik

Das Schöne an der Kunst ist, dass sie schön ist. Jedenfalls dann, wenn sie gut ist. Wann ist Literatur gut? Wenn es die Kritiker so sehen. Deshalb hatte es Martin Suter nicht leicht, der Rokoko-Schweizer und frühere Werbetexter. Dass die Leute seine Leser werden und ihn gut finden, hilft, aber genügt dem Künstler nicht. Er braucht seinesgleichen, die Peer-Review, die Gemeinschaft der Kunst. Oder zumindest die Kritiker, die nicht selten gut schreiben, also fast Künstler sind. Umso schöner, dass Suters neues Buch „Elefant“ zumindest bei einigen, jedenfalls den für Ästheten relevanten Kritikern gut ankam, wie in der FAZ http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/neuer-roman-elefant-von-autor-martin-suter-14754992.html, in der Rose-Maria Gropp die pfiffige Geschichte gleich nacherzählt, oder in der NZZ https://www.nzz.ch/feuilleton/martin-suter-und-sein-neuer-roman-die-literarische-antithese-ld.139900, wo Roman Bucheli, den man immer schätzen muss, seinen Landsmann mit Gottfried Keller berührt. Soweit zur Kultur, doch sie wäre kein Grund, warum es ein rosa Elefant in den Blog eines sozialökologischen Forschungsinstituts schafft.

Der Grund ist die Gentechnik, einerseits, aber ein wenig auch die feine soziale Beobachtung zwischen den unteren und den oberen Rängen der gesellschaftlichen Ungleichheitswelt, die Suter in seinen Roman einspannt, der mir so schnell nach Erscheinen auf dem Tisch landete. Wer hat es denn nicht gerne rosarot. Andererseits ist die rosarote Brille auch berüchtigt, man denkt sich die Welt, wie man sie gerne hätte. Die moderne Genforschung und ihre Anwendung machen genau das. Sie denken sich die Welt auch rosarot und während ich den Roman in zwei Nächten las, erschien in der FAZ der passende Bericht zwar nicht zum Elefantenmenschen (sein Darsteller John Hurt war gerade gestorben), sondern zum Menschen im Schwein http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-tier-schimaere-14769474.html. Da sind die ethischen Dilemmata noch gewaltiger, man befürchtet kluge Schweine und dürfe man die dann noch schlachten, aber man könnte auch schweinische Menschen befürchten, freilich wären sie auch nichts ganz Neues. Suters Geschichte des verkümmerten rosaroten Elefanten im Spielzeugformat, der im Dunkeln leuchtet, weil ihm sein Mit-Schöpfer, ein charakterarmer Gentechnologe, vorgeburtlich in die Eizellen eine Kombination aus Luziferin, wie bei den Glühwürmchen, und Mandrillaaffenpigment, das macht das Rosarote, integriert. Es hat auch fast geklappt, doch der in einem Schweizer Zirkus gezeugte Elefant blieb mikrozephal zwergwüchsig und hatte daher nicht lange zu leben. Der Genforscher hat chinesische Geschäftspartner, die mit Klonen und Sequenzieren mächtig im Geschäft sind. So nimmt die Geschichte ihren Lauf. Das klingt alles phantastisch, ist es aber nicht. Im Nachwort dankt Suter seinem weiteren Landsmann Mathias Jucker, der als Zellbiologe das Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen leitet und ihn auf die Fährte mit dem rosaroten Elefanten brachte. Da schwindelte mir schon etwas der Kopf, denn vor dem zweiten Leseblock hatte ich in der FAZ vom gleichen Tag einen ganzseitigen Vortrag eben dieses Kollegen Jucker gelesen: „Warum wir Alzheimer immer noch nicht heilen können“.

Das Besondere an Suters Roman ist dann der sozialökologische Blick, man könnte auch sagen: sein implizites Normativ Sozialer Nachhaltigkeit. Die Räuberpistole um den kleinen genmanipulierten Elefanten ist das eine, das andere aber ist der Blick in die Gesellschaft. Sein Protagonist, der Elefantenfinder, ist ein Obdachloser, der seit 10 Jahren in einem Erdloch an der Limmat haust. Um sich herum das unterste Geschoss der Schweizer Gesellschaft: Obdachlose, Junkies, Hündeler, Alkoholiker, wie er selbst. Aber alles ist geordnet. Auch sie bekommen Geld, im Jahr 2014 waren das immerhin 986 Franken im Monat, plus Wohnkosten und Gesundheitshilfe (nichts jedoch für die Hunde, wie ein rechter Stadtrat befürchtete: http://www.20min.ch/schweiz/zuerich/story/13811079). Der Schweizer Sozialstaat lindert die materielle Not, die innere Not freilich, das Ausgleiten aus dem gesicherten Leben, das bleibt auch da, Clochards im reichen Land, wie einer schrieb: http://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/armut-in-der-schweiz_das-leben-als-clochard-in-einem-reichen-land/41049192. Suter hat sich kundig gemacht. Am Ende flog sein Protagonist, der, wie sich dann zeigt, vor seinem Erdloch Investmentbanker war, für gut 200.000 Franken per VIP-Flug nach Myanmar, man liest in Suters Gedanken, der das Überfliegende aus eigenem Leben kannte, die Verwunderung über das, was sich die Reichen leisten können: für sie gibt es keinen Zoll, keine Warteschlangen. Natürlich auch eine Liebesgeschichte, die diesmal gut ausgeht.

Und eine schöne Botschaft an das Leben, das auch als manipuliertes Leben Leben ist. Suter bleibt in der Sicht des Erzählers, er analysiert nicht, doch unsereiner kann das nicht bleiben lassen. Wir denken darüber nach, was eine Geistestradition wie der Buddhismus zum Klonen meint, die doch das Irdische, das körperlich Materielle gering zu schätzen scheint. Aber auch der Buddhismus ist klug und plural: während sich Deutsche Buddhisten wie die katholische Kirche der Gentechnologie abneigen (https://www.buddhismuskunde.uni-hamburg.de/pdf/4-publikationen/buddhismus-in-geschichte-und-gegenwart/bd10-k09schlieter.pdf), mit guten Gründen, hatte der damals noch Nationale und heute Deutsche Ethikrat bereits 2004 die Weltreligionen zum Austausch über die Ethik des Vorgeburtlichen eingeladen, aus buddhistischer Sicht, so hieß es dort, „würde durch reproduktives Klonen auch kein göttliches Privileg verletzt“ (http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/infobrief-02-04.pdf). Wir schauen also am besten genau hin. Wie schon Rilke, als er im Jardin du Luxembourg „Das Karussell“ beobachtete. Der Elefant damals war weiß.

Trauriges Trumpland

Die Wahl des Populisten Donald Trump zum US-Präsidenten und die Willfährigkeit wie der Opportunismus, mit der die republikanische Partei aus dessen Präsidentschaft Vorteile generiert, erschrecken zu Recht. Wer für streitbaren, aber immer zivilen Umgang einsteht, wem die Menschenrechte und Respekt wie Nächstenliebe am Herzen liegen, kann sich derzeit wie gelähmt fühlen. Besonders bedrückend ist freilich, dass hier ein offensichtlich zumindest leicht Geistesgestörter in das mächtigste politische Amt dieser Welt hinein rutschte. Das klingt aus Wissenschaftlersicht hart. Doch es gibt zahlreiche Hinweise, wenn nicht Belege für diese beunruhigende Vorstellung.

In einem guten Beitrag in der Süddeutschen Zeitung (23.1.2017, Seite 3) beschreibt der Schriftsteller Peter Richter seine Wahrnehmungen vom Inaugurationstag und danach. Er sieht eine gespaltene Gesellschaft, Trump-Anhänger und Trump-Gegner, die sich nicht verstehen und verstehen wollen. Freilich: wie will man als vernunftbegabter Mensch Trump wohlwollend begegnen, wenn man die Schlusspassage des langen Beitrags liest, die mangels Online-Verfügbarkeit hier nun in voller Länge zitiert werden soll:

„.. irgendwann am Abend kursiert die Zahl von mindestens dreimal mehr Leuten, als Trump bei der Inauguration sehen wollten. Die New York Times zitiert ‚Crowd Scientists‘, die zu diesem Schätzergebnis kommen. Wie grotesk wichtig so etwas einmal werden kann, zeigt sich, als Trump am Nachmittag nach Langley hinausfährt zum Antrittsbesuch bei der CIA.
Der Termin gilt als Canossa-Gang, denn Trump hatte die Geheimdienste jetzt wochenlang aufs Korn genommen, ihnen die Hinweise auf die Wahlmanipulationen durch die Russen nicht abnehmen wollen, uns sie zwischendurch bezichtigt, ihm gegenüber Methoden ‚wie in Nazi-Deutschland‘ anzuwenden. Mit ihren Dossiers zur Sicherheitslage wollte er bitte lieber nicht mehr behelligt werden. Verfahrener kann eine Ausgangslage eigentlich gar nicht sein. Was dann daraus wird, ist aber selbst für Donald Trumps Verhältnisse und ausgebuffte Geheimdienstler ein außergewöhnlich bizarrer Auftritt.
Trump bewundert zunächst die Zahl der im Einsatz umgekommenen Agenten, so als sei das eine beglückwünschenswerte Leistung. Er sagt dann, er stehe dermaßen hinter dem Dienst, dass man sich noch wünschen werde, er stünde weniger hinter dem Dienst. Er sagt, er fühle sich wie 39. Er sagt, er wünschte, die USA hätten das irakische Öl einfach behalten. Dann geht es ihm in Langley darum, wie oft er beim Time Magazine auf dem Titel war. Nun, in wild mäandernder Weise kommt Trump vor den immer giggeliger werdenden CIA-Leuten umstandslos auf das Thema, das ihn am meisten beschäftigt, also auch an seinem ersten Tag im Amt: Es ist seine unbezwingbare, nicht endende, rasende Verachtung gegenüber den gottverdammten, hassenswerten Zeitungen. Immer wieder: ‚the media‘.
In scharfen Worten werden die Medien erst beschuldigt, einen Riss zwischen ihm und der CIA herbeigeschrieben zu haben, den es in Wahrheit ja nie gegeben habe. Der offenbar noch schwerer wirkende Vorwurf ist aber jetzt, an seinem ersten Tag als neuer Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika: Die Zeitungen haben seine Besucherzahlen bei der Inauguration kleingeredet. Der Hintergrund ist, dass die New York Times ein Foto von den Besuchern auf der National Mall bei seiner Amtseinführung einem Foto entgegenstellte, das die Situation bei Obamas Inauguration 2009 zeigt, als seriösen Schätzungen zufolge 1,8 Millionen Leute kamen. Die Bilder vom Freitag zeigten, dass es deutlich, wirklich sehr deutlich leerer war.
Trump ist vor den CIA-Leuten, die mit derlei Fragen sonst nicht befasst sind, außer sich. Er beharrt auf 1,5 Millionen Zuschauern, er habe sie selbst gesehen. Und so schickt er nach seinem Auftritt vor den verwirrten Geheimdienstlern seinen Press Secretary Sean Spicer in den Press Room: Die Medien hätten den Enthusiasmus der Anhängerschaft Trumps kleingeredet, sie würden ‚zur Rechenschaft gezogen‘, sie sollten sich vorsehen, so etwas noch einmal zu tun. Es ist wirr, es ist beängstigend.“

Das ist es. Ein großes Kind, nicht 39, sondern 9 im Kopf? Zugleich bauernschlau, verschlagen, geschickt? Oder mit seinem offensichtlichem Narzissmus ein willkommenes Werkzeug in der Hand der Interessen, die die republikanische Partei und teils auch die Demokraten, schon lange in der Hand halten: die PACs, die Millionäre und Milliardäre, die eher dazu neigen, die Ärmeren ärmer bleiben zu lassen und die Natur, unsere Umwelt als Ressource zu nutzen, statt nachhaltig zu wirtschaften und zu politisieren? Wir werden das beobachten. Trumps Wahl ist ein sozialer Einschnitt, wie es die Wahl Hitlers oder Duertes in den Philippinen war, die Wahlen von Assad und Putin wollen wir damit nicht vergleichen, denn dort wurden schon die Verfahren so manipuliert, dass von einer freien Wahl nicht gesprochen werden konnte. In den USA war dies bisher anders. 3 Millionen mehr Wählerinnen und Wähler für Hillary Clinton zeigen aber auch, dass auch in den USA und damit im Westen der Freiheit die Demokratie gefährdet ist – nicht zu vergessen die etwa 6 Millionen US-Bürger, denen aufgrund von Gerichtsurteilen das Wahlrecht entzogen wurde. Demokratie und Freiheit sind selbsterklärend, aber keine Selbstläufer. Ohne Soziale Bewegung, ohne persönlichen Mut und Wahrheitswillen drohen sie schon immer und weltweit zu verkümmern. Wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dürfen das nicht wollen, wir werden die Trump-Krankheit weiter analysieren und nach einer Medizin suchen, die von ihr heilt.