Der große Vater? Zum Tod von Helmut Kohl
„Pater Patriae“, einen Vater des Vaterlandes, nannte Volker Zastrow in der FAZ den eben verstorbenen Helmut Kohl, in einem, wie mir schien, brillanten, respektvollen und wägenden Text. Einen besseren Vater als Bismarck, der zur Vaterlandsgewinnung mindestens einen Krieg benötigte. Helmut Kohl wollte genau das nicht, er wollte eine langfristige Friedensarchitektur der Politik. Deshalb Europa, die Europäische Union, der Euro, deshalb die deutsche Einheit, deshalb Vertrauen unter den Mächtigen, deshalb Respekt gegenüber den kleinen und kleineren Mit-Staaten. Freilich, seine Lust an der Macht, am Prozess des machtvollen Gestaltens selbst, hatte zumindest zwei Schattenseiten. Die eine war eine gewisse Ziellosigkeit, er war rheinisch-katholisch-konservativ, das war fast das ganze Programm und das sagte in turbulenten Zeiten noch nicht viel, man warf ihm das „Aussitzen“ von Konflikten vor. Nun kann eine programmatische Armut auch den Effekt haben, dass ein Politiker eher als Moderator handelt, dass er vielleicht sogar zu versöhnen versucht. Johannes Rau, ein Jahr nach Kohl geboren, doch elf Jahre vor ihm gestorben, sagte man genau das nach. Auch Rau lebte am Rhein entlang und war doch ein ganz anderer Politikertyp. Die andere Schattenseite bündelte Machtwillen und Programmarmut, es handelte sich um eine Demokratieskepsis, ein gewisses Grundmisstrauen gegenüber dem Wahlvolk, dem Demos der Demokratie.
Gerald Häfner, früher grüner Bundestagsabgeordneter und Europaparlamentarier, jetzt Leiter der Sozialwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum, blickte mit kritischem Wohlwollen auf den Kanzler seiner Abgeordnetenjahre und erinnerte an einen im Nachrufchor bislang vergessenen Umstand: „(…) der Weg zur Herstellung der Deutschen Einheit war von dessen Müttern und Vätern im Artikel 146 des Grundgesetzes klar vorgegeben und hätte u.a. eine Volksabstimmung in Ost und West vorausgesetzt. Die Zustimmung wäre überwältigend gewesen. Doch aus Angst vor dem Präzedenzfall einer Volksabstimmung in Deutschland, die schnell Lust auf mehr (Demokratie) geweckt hätte, ließ Helmut Kohl den für das Saarland formulierten Verfassungsartikel 23 reaktivieren, der nicht die vorgesehene Vereinigung auf Augenhöhe, sondern einen schlichten Anschluss vorsah. An den psychologischen und politischen Folgen dieses falschen Weges zur Deutschen Einheit laboriert das Land noch heute.“ Eine Referendumsdemokratie nach Schweizer oder kalifornischem Vorbild war Kohl zuwider. Er telefonierte lieber den halben Tag mit der halben Welt, die ihn stützte, mit Kreisvorsitzenden und ihren Frauen, mit den großen und den kleinen Dienern der Macht. Vielleicht wäre er heute, im Zeitalter der Sozialen Netze und Medien im Internet, ein deutscher Donald Trump geworden, der schon morgens twittert, aus dem Auto, aus dem Bademantel. Andererseits war er zu klug für den dümmlichen Populismus, er verstand zu gut die Logik des Politischen, eben der reinen Macht. Er diskutierte gern, solange er wusste, dass am Ende der Diskussion kein Beschluss stand, der ihm nicht passte. Ein Machtmann.
Seine erste Frau, die er liebte und die er doch allein ließ wegen der Macht, die an Traurigkeit und Alleinsein starb, die Mutter seiner zwei Söhne, die kein gutes Wort mehr für sie bei ihm einlegen konnte, hätte auch daran gelitten, dass er sich mit ihnen überwarf, den Kontakt abbrach, seine Enkel nie sah. Dieses Familiendrama zeigt auch seine Unversöhnlichkeit, eben die Unfähigkeit zur Mediation, zur Demut. Der Verlust der Mutter zerbrach die Familie, noch 2001, als sein jüngster Sohn eine Türkin heiratete, hieß es: „Hannelore Kohl, die an einer Lichtallergie leidet, kann nicht zur Hochzeit nach Istanbul kommen.“ Nur zwei Monate später nahm sie sich das Leben, eine abgrundtief traurige Geschichte, vergewaltigt als Kind und als „Spendenhure“ beschimpft wegen des Betrugs-„Ehrenworts“ ihres Mannes. Dann sehe ich sein Gesicht, auf so vielen Bildern, und erinnere mich daran, dass mein eigener Vater ihm so ähnlich sah. Seit ich zwölf Jahre alt war, begleitete mich Helmut Kohl als Politiker, als Ministerpräsident, als Oppositionsführer, als Bundeskanzler, als Altkanzler. Wann immer ich ihn sah, sah ich auch meinen Vater. Und da war ich dankbar, dass ich einen anderen Vater hatte.