„Die Ameise“ von Peter Ronnefeld an der Oper Bonn

Michael Opielka – 15. Dezember 2025

Peter Ronnefeld starb 1965, mit nur 30 Jahren, an Krebs. Er ist heute unbekannt. Damals war er ein Jungstar, ein „außergewöhnliches Musiktalent“ mit 26 Chefdirigent in Bonn, mit 28 Generalmusikdirektor in Kiel. Er komponierte eine Oper, „Die Ameise“, uraufgeführt 1961, dann weitgehend vergessen. Nun nahm sich das Theater Bonn an seiner Oper dieses Stücks an, als „eine Produktion im Rahmen der mit dem OPER! Award 2023 ausgezeichneten Reihe FOKUS’33 des Theater Bonn. Gefördert wird das Projekt vom Ministerium für Kultur und Wissenschaften des Landes Nordrhein-Westfalen“. Kulturpolitik wirkt also. Die Premiere der Bonner Neuinszenierung am 14.12.2025 war ein Ereignis. Das einschlägige Portal „Die deutsche Bühne“ überschlägt sich geradezu in einer fast frenetischen Besprechung. Das kann ich hier nicht besser, so genügen der Link und ein paar knapp Sätze zum Inhalt: Der Gesangslehrer Salvatore sitzt auf der Anklagebank, unter Verdacht, seine Studentin Formica (Latein für »Ameise«) umgebracht zu haben. Obwohl man ihm anhand der Zeugenaussagen nichts Konkretes nachweisen kann, wird Salvatore zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Salvatore war von Formica zutiefst besessen, er betrachtete sie als sein eigenes Kunstwerk. Als sie ihn verlassen wollte, um sich als selbstständige Sängerin weiterzuentwickeln, konnte er dies nicht verkraften. Ob er sie tatsächlich umgebracht hat, bleibt jedoch offen. Im Gefängnis entwickelt Salvatore Wahnvorstellungen. Seine Studentin sieht er nun in einer Ameise, die er in einem Kästchen aufbewahrt und versucht, ihr das Singen beizubringen. Als er plötzlich aus dem Gefängnis entlassen wird, stirbt er. Formica träumt vom Singen, Salvatore vom Weib, sie spielt Verführung, er ist zu alt. So weit der Plot, der mit fantastischem Bühnenbild, burlesker Choreographie und mit einer Musik jener Moderne verwoben wird, Hindemith, Orff, Berg, Jazz.

Was ich beitragen kann, ist eine kulturkritische Assoziation. Denn während der Aufführung hatte ich wiederkehrend Déjà-vus. Da half der Sänger des Salvatore, Dietrich Henschel. Er spielt einen älteren Mann, einen berühmten Gesangslehrer, der mit sechzig einer sechzehnjährigen Schülerin verfällt. Das Libretto entstammt der Zeit des Präfeminismus, patriacharchale Schlüpfrigkeit wird ungebrochen präsentiert, ob vom Gesangslehrerkollegen oder den Gefängnisinsassenkollegen, Männer unter sich, Frauen unter ihnen. Das hört sich unangenehm an und ist noch immer Teil der Wirklichkeit. Natürlich stricken Frauen  an ihrer Unterwerfung mit. Die Mutter liefert die Tochter schlüpfrig an, oder ist das die heutige Deutung der Inszenierung der Regisseurin? Was aber ist mit dem Mann, den Männern? Dietrich Henschel spielt den Alten alt, das Haar schütter und weiß, doch die Bewegungen quick. Das letzte Mal sah ich ihn vor 23 Jahren, an der Oper Köln, er spielte in Mozarts Don Giovanni die Hauptrolle, damals 35 Jahre alt, jugendlich, der kühne Regisseur war David Alden. Jene Aufführung inspirierte mich zu einer Reflexion auf das Verhältnis von Don Giovanni und Faust, auf Weibliches und Ewig-Weibliches. Ronnefeld und sein Librettist Richard Blettschacher, dem noch sehr viele Jahre vergönnt sind, waren damals jung. Sie blickten auf den Verfall des Alters und sein bisweilen widerwärtiges Sich-Aufbäumen. Jenseits der Lust- und Machtkritik kann man die Geschichte vielleicht auch existentiell lesen. Da verliebt sich einer unerwidert und wird daran verrückt. Das ist gewiss bitter. Hier wird es als Kunst, surreal in Bild, Bewegung und Musik, auf die Bühne gebracht. Das Verrückte wird dadurch nicht schön, aber wir können es ertragen. „Wir besuchen regelmäßig Prozesse! Wir können uns ein Urteil erlauben!“, singt der Chor zu Beginn. „Wir besuchen regelmäßig Theater! Wir können uns ein Urteil erlauben“, singt der Chor vor dem Finale. Der Chor ist ambivalent, der Chor sind wir, die Zuschauer. Kulturkritik beginnt mit Kulturanschauung.

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