Die Homöopathie und (nicht nur) die GRÜNEN

Michael Opielka – 26. Oktober 2019

Die neuesten Beiträge in den Qualitätsmedien ZEIT und SPIEGEL zur Homöopathiedebatte bei den Grünen
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/die-gruenen-wollen-homoeopathie-streit-vom-parteitag-fernhalten-a-1291755.html
https://www.zeit.de/2019/44/forschung-klimawandel-homoeopathie-wissenschaft-versuchung
erinnern doch sehr an die Diskussion um die sogenannte „Atomkraft“ oder Kernkraft in den 1970er und 1980ern, an die Debatte um das Menschengemachte des Klimawandels versus „Klimaleugner“, um die Risiken der Gentechnik, an die Wissenschaftlichkeit eines „Gender“-Konzeptes oder selbst an die Debatte zwischen Evolutions- und Schöpfungstheorien. „Irgendwann“, so das Vertrauen der Aufgeklärten, kommt die Wahrheit heraus und werden die Mythen wiederlegt.

In Sachen Schulmedizin versus Homöopathie oder – weiter gefasst – „Komplementärmedizin“ ist die Diskussion auch nicht neu. Es ist diskursstrategisch aber interessant, warum sie gerade jetzt aufpoppt. Vermutlich ist dem Teil der Grünen, der sich faktennüchtern und in innerer Daueropposition zu den „Moralökologen“ befindet, nach der Ernüchterung über die Anpassungsleistung der Grünen in der ersten Bundesregierung Schröder-Fischer-Trittin 1998-2005 an den neoliberalen Mainstream („Agenda 2010“, „Hartz IV“) das Großthema ausgegangen: denn die Position der sogenannten „Realos“ war stets, dass der kapitalistische Produktivismus durch grüne Politik nicht gefährdet werden darf. Den „Fundis“ wiederum waren Systemimperative stets gleichgültig, ihnen war Gesinnung alles, Konsequenzen wenig. Mit der Großwahrnehmung der Klimakrise bis hin zur „Agenda 2030“ der UN (Sustainable Development Goals, SDG) seit 2015 stellt sich erneut die Systemfrage, aber nun völlig überkomplex, die Ökonomie allein, die noch die Realo-Fundi-Kontroverse als Spätwirkung der Marxismus-Relevanz prägte, reicht nicht, jetzt geht es um das Denken des Ganzen. Da könnte natürlich die Religion helfen, aber die hilft heute nur noch wenigen, also muss die Wissenschaft ran, als letzte Sachwalterin von Ganzheit. Die Diskussion um die Homöopathie scheint hier manchen, trotz ihrer gesundheitsökonomischen Bedeutungslosigkeit, als ein Leuchtturm, der nicht die Wissenschaftlichkeit als solche, sondern die Wissenschaftlichkeit der Herrschenden repräsentiert, mit denen man es sich so wenig verscherzen will, wie Rot-Grün 1998-2005.

„Wahre“ Wissenschaft kümmert sich freilich um Wahrheit, was ein ewiges, aber kein aussichtsloses Projekt ist. Von daher ist sehr zu begrüßen, dass die Grünen in Baden-Württemberg im Koalitionsvertrag mit der CDU und über ihre dortige Wissenschaftsministerin Theresia Bauer die Einrichtung eines Lehrstuhls für Komplementärmedizin an der Universität Tübingen durchsetzten. Interessant ist, wie der Dekan der dortigen medizinischen Fakultät, der Kollege Ingo Autenrieth, Nachkomme des berühmten württembergischen Medizinpioniers Johann Heinrich Ferdinand Autenrieth, im Oktober 2018 die Angelegenheit rahmte:
https://medwatch.de/2018/10/22/dekan-zu-umstrittenem-lehrstuhl-unsere-partner-haben-ganz-klar-die-homoeopathie-verlassen/
Ein Jahr später hat sich hier schon manches, teils in Integration bisheriger Forschungen, materialisiert:
https://www.medizin.uni-tuebingen.de/de/das-klinikum/einrichtungen/institute/allgemeinmedizin/forschung/komplementaere-und-integrative-medizin
Ob die Einschätzung des Kollegen Autenrieth, der Partner Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart, ein Pionier der wissenschaftlichen Naturheilkunde, habe die Homöopathie „verlassen“, mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder eben nur ein Diskursbeitrag in einer nicht immer von Fakten getragenen Wissenschaftswelt ist, lässt sich überprüfen:
https://www.rbk.de/standorte/robert-bosch-krankenhaus/abteilungen/naturheilkunde-und-integrative-medizin.html
Auch das Forschungs- und Lehrzentrum der Universität Witten-Herdecke am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke forscht seit langem zu den Wirkungen der Homöopathie:
https://www.gemeinschaftskrankenhaus.de/ueber.uns/universitaet.wittenherdecke/forschungs.und.lehrzentrum/

Den Grünen wäre zu empfehlen, diese Forschung weiter, aber in erheblich größerem Umfang zu fördern. Als unter Rot-Grün mit Andrea Fischer sogar eine Grüne zur Bundesgesundheitsministerin wurde, bestand für einen Moment Hoffnung und Erwartung, dass eine ganzheitlichere Aufklärung auch in die gesundheitspolitische Debatte einzog. Immerhin wurde damals, 1999, die Naturheilkunde in die neue Positivliste einbezogen:https://www.welt.de/print-welt/article567426/Eckpunkte-fuer-Gesundheitsreform-stehen-fest.html doch leider nicht in die Forschungsförderung. Vielleicht wäre es damals gelungen, wenn Andrea Fischer nicht so schnell im Männerstadel der damaligen Grünen aufgegeben hätte. Über die Länder lässt sich aufgrund der Länderkompetenz in der Hochschulpolitik einiges machen. Hier haben die Grünen eine Aufgabe, der sie, mit Ausnahme von Theresia Bauer, bisher kaum nachgekommen sind. Statt also opportunistische und scheinwissenschaftliche Debatten zur Homöopathie zu betreiben, sollten die Grünen den Kopf anschalten und Forschung fördern.

Eine persönliche Anmerkung zum Schluss. Vor einigen Jahren lag ich auf der Bahre einer westdeutschen Universitätsklinik, eine Notfall-Operation war innerhalb weniger Stunden anberaumt worden. Ich hatte schon die Kanülen in den Venen, da sollte ich eine Einverständniserklärung unterschreiben. In ihr sollte ich mich für eine von zwei Operationsmethoden entscheiden. Ich kannte keine von beiden, der OP-Anlass war überraschend gewesen, keine Zeit zur Vorabrecherche. Ich sagte der operierenden Oberärztin, wählen sie bitte die Methode, die evidenzbasiert ist und dies möglichst in RCT-Verfahren. Das wisse sie nicht, sagte sie. Dann wählen Sie bitte die Methode mit den geringsten Risiken in meinem Fall, sagte ich und entschied nach Gefühl. Nach der OP und längerer Heilung recherchierte ich. Es gab weltweit zu dem OP-Anlass, der keineswegs selten ist, sehr wenige Studien mit sehr geringer Fallzahl. An RCT war nicht zu denken. Das ist die Realität der Medizin. Der größte Teil der Interventionen ist erfahrungsbasiert und keineswegs wissenschaftlich kontrolliert.