Die Nachhaltigkeit von Literatur: Gedanken zu Pascal Mercier „Das Gewicht der Worte“
Wer über Nachhaltigkeit schreibt, und Forscherinnen und Forscher müssen schreiben, der schreibt zunehmend, dass man Narrative für sie brauche, Erzählungen, denn Zahlen reichen nicht, sie erreichen nicht die Herzen, und ohne die Herzen keine Taten, keine Wahlen, keine Veränderung. Also, Aufruf an uns Nachhaltigkeitsforscher, die wir oft, jedenfalls im ISÖ, auch Gerechtigkeitforscher, Sozialpolitikforscher, Zukunftsforscher, Bessereslebenforscher sind: Erzählen lernen! Bei denen hinschauen, die es können, am besten nicht bei den Genialen, die es schon immer konnten, die schon als Kleinkinder den Nobelpreis visionierten, sondern bei denen, die es sich beibrachten, die es spät lernten und dann einfach gut können.
Schon sind wir bei Pascal Mercier. Er heißt in Wirklichkeit Peter Bieri, war bis zu seiner ein wenig vorzeitigen Emeritierung Professor an der FU Berlin und dort für analytische Philosophie bekannt. Sein bekanntestes und verfilmtes Buch Nachtzug nach Lissabon war ein Bestseller, ich las es gern. Optimistische Melancholie, Klugheit, mutige Demut. Nun, 2020, hat er einen weiteren fast 600-Seiter veröffentlicht, bei Hanser, gediegener Literaturverlag, Das Gewicht der Worte. Das Votum der Rezensenten war bislang vernichtend: „Monumentale Biederkeit“ schoss Jens Jessen auf zwei Seiten in die ZEIT, auch der SPIEGEL entdeckt unter Lobenswertem, das gleich wieder ironisch dementiert wird, vor allem „ewige Wortskrupelei„. Vielleicht wären dem Autor solche Verrisse, unkt Deutschlandfunk Kultur, erspart geblieben, „wenn er seine Zweitkarriere nicht als renommierter Akademiker, sondern als Automechaniker gestartet hätte. Diesem würde der Einschlag ins leicht Sentimentale mutmaßlich eher verziehen„. Man liest diese Kritiken, wie soll das ein lesenswertes Buch sein, vielleicht noch die Süddeutsche, ihr Feuilleton ist meist solide, Franziska Augstein nimmt sich das Buch vor: „Der aus England gebürtige Simon Leyland ist versessen auf Wörter. Er beherrscht viele Sprachen. Weil er Sprachen liebt, wird er von Beruf Übersetzer. Seine Frau ist bei einem Unfall gestorben, weshalb er ihren Verlag in Triest übernommen hat. Er leidet an schweren Migräneanfällen. Einmal kippt er um, wird ins Krankenhaus gebracht, wo man ihm mitteilt, dass er an einem Hirntumor leide und nur noch wenige Monate zu leben habe. Daraufhin verkauft er den Verlag. Kurz danach stellt sich indes heraus, dass Patientenakten vertauscht wurden, er hat keinen Hirntumor, er ist bloß geschlagen mit seiner Migräne. Das ist umwerfend für ihn und seine zwei Kinder. Selbstverständlich tauchen noch mehr Figuren auf, die sich alle – bis hin zum letzten Arbeitslosen – vor allem für Sprache, für Bücher, für deren grafische Ausstattung und für das Verlagswesen interessieren. Sie sind Funktionswesen in diesem Roman, Personen ohne Belang und Kontur.“ Wer das liest, will das Buch nicht lesen, wer will schon „Funktionswesen“ in einem Roman. Aber hat Augstein (und Jessen ff.) richtig hingelesen? Wir schauen nach, denn als ich die Kritiken las, hatte ich das Buch gelesen und war entschlossen, hier, in diesem Blog, lobend darüber zu schreiben. Augstein schreibt: „Merciers Protagonist Simon Leyland hat als junger Mann oft seinen Professor in London besucht, dem er versicherte, er wolle alle Sprachen lernen, die ums Mittelmeer gesprochen werden. Das fand der Professor so ungewöhnlich vielversprechend, dass er Leyland sein Haus vererbt hat.“ „Seinen Professor“ also. Doch es war sein Onkel Warren Shawn, der Bruder seines Vaters, kein „Funktionswesen“. Zum Glück hat Valeria Heintges in der NZZ das entdeckt, sie kommt Mercier-Bieri vielleicht am nächsten, wenn sie ihn kritisiert und zitiert: „Doch sind ihm die Worte auch wichtiger als Gefühle. «Er erlebe die Dinge erst, wenn er sie in Worte gefasst habe, sagte er manchmal.»“ Die KritikerInnen suchen das Literarische, die Kunst, aber sie ist ohne das Leben nicht zu haben. Gefühle sind das Leben, aber die Worte auch, ihre Verbindung kann Kunst werden und Kunst ist nicht leicht. Dem Protagonisten, hinter dem sich auch der Philosophieprofessor verstecken dürfte, ist das im Roman wirklich ein Anliegen, an sein Ich zu gelangen, wie sollte das in einem Roman anders gelingen als durch Worte. Er vertritt die analytische Philosophie, aber die ist fast das Gegenteil der analytischen Psychologie, der Psychoanalyse, deren Begründer, Sigmund Freud, 1895 in seinen Studien über Hysterie geschrieben hatte: „und es berührt mich selbst noch eigenthümlich, dass die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und dass sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren“. Freud war vielfach und chancenlos für den Nobelpreis in Physiologie oder Medizin nominiert, und auch für den Literaturnobelpreis, schon etwas chancenreicher. Ab wann verwandelt sich ein Text in Literatur? Die Rezensentin des Bayrischen Rundfunks sieht das pragmatisch, Merciers Buch „dürfte jene, die seine Leidenschaft für das Gewicht einzelner Worte nicht teilen, hier und da wohl auch ein wenig langweilen. Jenen anderen aber, die sich auf sein verbales Largo einlassen und den Klängen ihre Bedeutung ablauschen können, wird ein nachhaltiges Lektüreerlebnis geschenkt.“
Was klang nach im Gewicht der Worte, was hat dieses Buch mit Nachhaltigkeit zu tun? Mercier ist von den langen Linien der Kultur fasziniert, ihrer Longue durée, wie die Sozialhistoriker sagen. Die Sprache ist ihr Spiegel, die Schrift auch, aber mehr noch ihre Tönung, die Gestimmtheit, die eine Sprache anbietet und die von ihren Sprechern genutzt und von den Zuhörern mit Gefühlen und Erinnerung gekoppelt wird. Mercier beschaut das am Beispiel von Italien und England, biographisch durchtränkt, etwas deutsch kommt darüber dazu, er wandert, was soll ein Übersetzer auch anders tun, durch die Landschaft der Sprachen. Wer daran keine Freude, wer an Musik keine Freude hat, am Tanz, am Schauspiel, an Malerei oder Bildhauerei, also an den zu Landschaften gewordenen Medien der Kommunikation, an dem flimmert auch Merciers Wort-Buch vorbei. Diese Landschaften machen freilich unsere Kultur aus, sie zeigen der Welt den Menschen und der Mensch zeigt sich in ihnen der Welt, menschlich. Da taucht die erste Brücke zur Nachhaltigkeit aus dem Nebel der Worte, die Demut vor der Geschichte derer, die vor uns waren, die die Welt zu dem machten, was sie heute ist, und die sie oft schön machten, überwältigend schön, berührend, zu Tränen rührend, zum Jauchzen auch, zum Frohlocken. Mit Kultur geben wir Sprachwesen unserem Leben Sinn, wir reflektieren uns in der Welt. 2020 ist Beethoven-Jahr, ist Hegel-Jahr, Hölderlin-Jahr, 250ste Geburtstage von ganz Großen, die mit dem blieben, was sie uns ließen. Die zweite Brücke ist unser Ich, sind unsere Iche. Nachhaltigkeit im Zeitalter der Individualität, des erwachten Ichs, geht nur mit ihr und ihm. Das Ich muss von der Welt berührt sein, vom Schicksal des Anderen, vor allem vom leidenden Anderen, auch von den leidenden Tieren, der wunden Natur. Ohne diese seelische Berührung bleibt Nachhaltigkeit abstrakt, sie zerschellt als politisches Motiv an anderen Motiven, Arbeitsplätzen, Wohlstandssicherung, Völkismus, Egoismus. Deshalb brauchen wir die Kunst. Sie zeigt uns, wenn sie gut ist, was wir sein können, wie wir empfinden können, wenn wir ganz Mensch werden. Die Wissenschaftlichkeit der Nachhaltigkeitswelt, das Wissensvertrauen der Fridays-for-Future-AktivistInnen, ihre Objektivitätshoffnung sind ein Glück, aber sie genügen nicht. 1998 habilitierte Pascal Mercier als Peter Bieri eine junge Philosophin mit einer Arbeit über Wahrheit und Wissen, sie machte daraus später ein kluges Buch nur noch über Wissen. Das sei eben nicht zeitlos und kontextfrei, sondern kontextabhängig, ganz analytische Philosophie. Bieri schrieb noch weiter Philosophisches, aber er schimpfte nun über den Philosophiebetrieb, dem er relevant angehörte, und schrieb seine viel kritisierten, ab und an gelobten und von erstaunlich vielen LeserInnen gekauften Bücher. Das sind die Iche, sie sind so verschieden. Für uns Soziologen ist das eine gewaltige, auch geistige Herausforderung, aus dem Leben der Einzelnen und ihren Wahlhandlungen, dem Wirken der Organisationen und dem Treiben der Gesellschaften Begriffe zu bilden, die einigermaßen „wahr“ sind und nützlich. Die Nachhaltigkeitswirkung der Wissenschaft braucht Erzählungen, schöne und gute Worte. Mercier verknüpft die Sprachwanderlust mit großen ethischen Fragen nach Sterbehilfe, Tod und dem Sinn des je gelebten Lebens. Sein Religionswissen ist von seiner Wissenschaftlergeschichte ungetrübt, er schimpft über einen Gott, der die Menschen steuert, aber dass das infantile Gottesbilder sind, fällt ihm nicht auf. Auch der Kluge hat Lücken und das ist gut so. Johann Gottfried von Herder schrieb in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache: „Ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht immer größer, als der Riese selbst?“ Bei Merciers Buch fühlte ich mich, als Autor, wie ein Zwerg, und bewunderte, wie er das Gewicht der Worte stemmte. Das Buch wirkt nach, es ist nachhaltig.