„Nachhaltigkeit!“ – sehr lesenswertes Buch eines CDU-Bundestagsabgeordneten
Wissenschaftler lesen ständig, was andere WissenschaftlerInnen schreiben, die Wissenschaft ist eine Kommunikationsgemeinschaft, der „state of the art“ ist der Stand der Kunst der Anderen, der eigene Beitrag ja meist sehr bescheiden, Demut angesagt. Hin und wieder überrascht die Lektüre sehr, fällt einem Unerwartetes in die Hände, öffnet der Blick in Fremdes den eigenen Blick in die Welt. Vor Kurzem wurde mir das Buch eines CDU-Bundestagsabgeordneten zur Nachhaltigkeitsdebatte empfohlen, ich erwartete ein „typisches“ Politikerbuch, eine Mischung aus geschönter Autobiographie und Programmatik, ließ es also etwas liegen. Als ich es dann öffnete, verschlang ich es und wil es nun loben: „Nachhaltigkeit! Für eine Politik aus christlicher Überzeugung“, Ende 2015 im Herder-Verlag erschienen, der Autor: Matthias Zimmer: https://www.herder.de/religion-theologie-shop/nachhaltigkeit!-gebundene-ausgabe/c-25/p-4069/ Volker Kauder schrieb ein Vorwort, es reizt nicht recht zur Lektüre, es spricht in die CDU und ihr Klientel hinein, wenn er meint: „Doch kann man bisweilen den Eindruck bekommen: Nachhaltigkeit ist wie eine Art Monstranz, die gezeigt wird, die allgemein akzeptiert ist, die aber seltsam konturenlos erscheint.“ Für uns Katholiken ist der Verweis auf die Monstranz vertraut, aber meint er es ironisch, will sich Kauder mit solchen Sätzen zugleich distanzieren, auch wenn er Zimmer, so schreibt er wiederum am Ende, danksagend, ihn überhaupt zum Schreiben des Buches animiert hat? Zwar nicht Kauder, aber Peter Tauber, der CDU-Generalsekretär, hat das Buch dann präsentiert: http://blog.petertauber.de/?tag=nachhaltigkeit Alles Hinweise darauf, dass Matthias Zimmer vielleicht doch nicht ganz am Rande steht, einsam in der Wildnis mit seiner Nachhaltigkeits-Monstranz.
Das Buch lohnt die Lektüre, für den bildungshungrigen Laien, aber auch für die wissende Nachhaltigkeitsforscherin. Es ist zunächst dazu gedacht, in die CDU und ihr Milieu hinein zu wirken, Zimmer war in der 17. Wahlperiode des Deutschen Bundestages für die CDU Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Diese Kommission, eine „prägende Erfahrung“, hat seinen Blick auf die Welt verändert. Das Buch reitet Parforce durch die Geschichte der Fortschritts- und Wachstumskritik, die Diskussion um Wachstum und Lebensqualität, um den Nachhaltigkeitsbegriff, all das findet sich woanders auch, aber es findet sich hier gut, präzise, ausgewogen vermittelnd, eine „bürgerliche“ Sicht, die Vertrauen in das Bürgerliche weckt oder erhält. Aber dann kommt doch auch etwas Neues, die biblische Perspektive, die „Perspektiven aus dem Glauben“. Zimmer rahmt die 2015 erschienene Franziskus-Enyzklika „Laudato si'“, verknüpft sie sehr lesenswert mit drei exemplarischen Denkern in christlicher Tradition, Albert Schweitzer, Vittorio Hösle und Leonardo Boff und endet mit wirklich guten Gedanken zur Internationalen Gerechtigkeit und vielen praktischen politischen Optionen, realitätsnah und doch konsequent, für die CDU ganz sicher radikal. Eben auch im Denken: selten, fast nie, liest man aus konservativer Sicht so klar und überzeugend eine innere Bejahung von Denkansätzen, die noch vor wenigen Jahren geradezu diametral wirkten, die sich wechselseitig überhaupt nicht ernsthaft wahrnahmen: Befreiungstheologie, Spätmarxismus, Dependenztheorie, Feminismus, Care-Ökonomie, das ganze Spektrum des sozialökologischen Denkens der letzten Jahrzehnte wird hier gut begründet anschlussfähig zu Sozialer Marktwirtschaft und katholischer Soziallehre. Sicher, Matthias Zimmer ist promoviert und habilitiert, er ist wissenschaftlich ausgewiesen, keine Politikerlaufbahn via Verbände oder Verwaltung. Umso besser, dass das auch geht, es braucht die Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Und weil Zimmer so viel gelesen hat und selbst mit diesen seltenen Lesefrüchten glänzt, die auch den begeisterten Autor dieses Blogs vor Jahren schon begeisterten, wie John Maynard Keynes‘ schönem Aufsatz „Economic Possibilities for our Grandchildren“ aus 1930, ist die Lektüre eine Freude. Alles ist verständlich, dass die CDU durchgrünt scheint, wundert nach so kluger Lektüre nicht.
Freilich, dass das Buch geschrieben wurde, liegt eben auch daran, dass nicht nur die CDU über breite Verteidigungslinien des alten, vor-nachhaltigen Denkens verfügt. Erst jüngst diskutierte ich auf Twitter mit einem CDU-Landtagsabgeordneten darüber, warum „Wirtschaftswachstum“ nicht mit dem allgemein menschlichen, dem anthropologischen Streben nach Entwicklung gleichgesetzt werden kann. Nachhaltigkeit, gar soziale Nachhaltigkeit braucht auch Bildung, braucht Gründlichkeit, braucht ein Wissen um die Ambivalenzen in unserem Verständnis von Natur und Gesellschaft. Zimmers Buch ist, nach dem Buch eines anderen CDU-Bundestagsabgeordneten aus dem Jahr 1975: „Ein Planet wird geplündert“ von Herbert Gruhl, ein zweites, analytisches Manifest, das schon auch zeigt, warum „schwarz-grün“ nicht einfach nur ein Resultat von Machtspielen war und ist, sondern gute Gründe hat.