Peter Handke ehren: „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1972)

Michael Opielka – 2. November 2019

Die Nachricht vom Literaturnobelpreis 2019 an Peter Handke elektrisierte die Feuilletons. Auch ich war hin- und hergerissen, Handke der Anlass ambivalenter Gefühle und Gedanken. Seine Einlassungen zum Balkankrieg, sein Serbien-Lob haben sein Urteilsvermögen infragegestellt. Auch ich beteiligte mich auf Twitter, dem vielfach verfemten Medium, einer neuen Form der Öffentlichkeit, die jede und jeden zulässt, nichts dauert an, alles ist im Augenblick, verlinkt, bezieht sich auf das und jenes. Seine letzten Bücher hatte ich weggelegt, zu wortlang kamen sie mir vor, wie die Naturbeschreibungen eines Thomas Mann, die mich schon als Jugendlichen einschläferten. Seine Interviews, er gab sie selten, die Gesprächsberichte kluger Kulturredakteure, meist Männer, zeigten einen außergewöhnlichen Beobachter, einen Freund der Schönheit. Also ihn doch einmal wiederlesen und am besten etwas, das lange her ist, das ihn berühmt machte, am besten sogar etwas, das mir bekannt schien, aus eigener Erfahrung. Mein kleines Buch „Sisyphus. Ein glücklicher Mann“, war vor wenigen Monaten erschienen, auch dort ging es um Abschiede und einen sehr kurzen Brief. Das steigerte die Aufmerksamkeit, die Neugier, die Lust an der Lektüre.

Ich hatte sein Buch „Der kurze Brief zum langen Abschied“ gewählt. Es erschien 1972 bei Suhrkamp. Peter Handke schrieb es 1971, er war noch keine 29 Jahre alt, er war jung schon sehr gut. Viele Besprechungen von damals finden sich im Netz, Helmut Karasek lobte ihn gleich nach Erscheinen in der ZEIT: „Je weiter das Buch fortschreitet, desto mehr läßt es sich auf die Innenwelt der Außenwelt ein.“ Das ist wahr, Literatur als Sozialforschung. Noch im letzten, im Vornobelpreisjahr, machte die Deutsche Welle erneut auf das große kleine Buch aufmerkam: „Hinter all den Episoden des Ich-Erzählers stehen – wie hinter Kulissen – ganz andere, existentiellere Probleme. Nach und nach treten sie nach vorn, drängen sich unausweichlich in sein Bewusstsein: Die Suche nach seinem verlorenen Bruder, der wortlos Dorf, Eltern, Familie verlassen hat und nach Amerika auswanderte. Seine Schreibkrise, die alles bisher Verfasste belanglos erscheinen lässt. Vieles klingt autobiografisch gefärbt, Handke hat eigene Erfahrungen immer wieder einfließen lassen.“ Es gibt eine Handke-Seite der österreichischen Nationalbibliothek, die noch viel mehr zum Entstehungskontext weiß. Als ich das Buch las, kam mir Vladimir Nabokovs „Lolita“ in den Sinn, gleichhin eine Unterwegsgeschichte in den USA, doch eine ekelhafte, päderastisch-ausbeutende. Auch der 28-jährige Handke ist vor allem sich selbst gegenüber empfindsam. Mit nebenblickender Verächtlichkeit sieht er „Neger“ und beschreibt er eine der kleinen Szenen mit Judith, die ihn verließ und ihn nun töten will: „aber mir ist die Hand ausgerutscht. Ich habe sie ins Gesicht geschlagen.“ Eine andere seiner Frauen wird ihn für die häusliche Gewalt später anprangern, aber nicht anzeigen. Eine Tötung, wie sie dem Holofernes widerfuhr, das Buch ist voll von literarischer Belesenheit, rechtfertigt die Moralimpotenz Handkes sicher nicht, etwas Strafe freilich schon. Wie er später in Serbien genau auf Nudeln achtet, schaut er auch hier auf das Kleine: „Ich verlor mich in den Anblick der Zitronenscheibe, die am Glasrand steckte.“ Seine Stärke ist die Genauigkeit, die Kunst der Wahrnehmung, er liebte John Ford, ein Vorbild.

Am Anfang stand der kurze Brief: „Ich bin in New York. Bitte suche mich nicht, es wäre nicht schön, mich zu finden.“ Er sucht sie doch, sie findet ihn. Das Ende ist lesenswert, der letzte Satz: „das ist alles passiert.“ Und es ist doch ausgedacht, beobachtet und ausgedacht. Handke wird 77 Jahre alt geworden sein, wenn er den Literaturnobelpreis erhält, beinahe 50 Jahre sind seit dem kleinen Buch vergangen. Er hat ihn verdient. Auch wenn ich ihm wünsche, noch genauer auf andere zu schauen, nicht nur auf Zitronenscheiben. Mitgefühl, das muss man sich leisten können, könnte er erwidern, der Vater ein Trinker, der die Mutter schlug, die Mutter, die sich tötete, das macht die Seele hart. Das muss nicht bleiben: „In meinem Buch versuche ich, eine Hoffnung zu beschreiben – dass man sich so nach und nach entwickeln könnte.“ Warum nicht spät.

 

Nachtrag (18./22.3.2020)

Der Nobelpreis an Peter Handke wurde verliehen, im Interview mit dem Medienverantwortlichen des Nobelkomitees gesteht er seine Vergesslichkeit des einst von ihm Geschriebenen: „I don’t remember that I wrote this.Seine Dankesrede, auch sie offiziell, das Komitee ist neuzeitlich, wurde in den Feuilletons verrissen, warum so viel Selbstzitat zu Beginn, warum ein stotterndes Gedichtzitat von Tomas Tranströmer, schwedischer Literaturnobelpreisträger von 2011, Einschmeichelei, warum überhaupt so ein stotternder Vortrag, ist er schon zu alt. Die Zeit legt auch darüber ihr Kleid, dann aber kleine Nachträge, deshalb dieser Nachtrag. Der erste außerhalb des Literaturgeschehens, in Das Goetheanum. Wochenschrift für Anthroposophie schreibt ein treuer Handkeianer, er hat ihn schon 1987 interviewt, Neues, jedenfalls für mich wirklich Neues über seinen Literaturgott, indem er in dessen Notizbücher schaut, dank Werkausgabe nun bald alle für alle einsichtig, und „Liebendes Schauen“ feststellt, zu Gott, auf die Evangelien, durch die Evangelien hindurch.

Das zweite darin, ein neues Buch, ein kleines Buch, geschrieben im April und Mai 2019, da wusste er noch nichts von der Nobelehre, ihm vorgestellt Lukas 22, 36-38. „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte„. Was dann kommt, ich las das Buch mit Widerwillen zu Beginn, eine Apologie der Wut, der Wut auf die Gewalt, die selbst zur Gewalt wuchert, die sich entgrenzt, eine Beleidigung der Mutter soll mit dem Tod der Beleidigerin gesühnt werden, der Autor hängt mit den Augen am Fensterkreuz, mit dem Blick an Schmetterlingspaaren, sich Betrinkenden, an Schlangen und Straßenbahnen. „Die Tatsachen konnten der Illussion nichts anhaben.“ Er wandert mit der Wut und aus der Wut in ein Reich, in sein Reich der Poesie. So viele Zitate möglich, die bleiben können. „Der Schein, das Leben.“ Waches Traumreich, am Ende auf allen vieren, der Wein wirkt, zurück im Idyllenhaus in der Île-de-France. Handke sollte Recht geschehen, auch wenn es niemanden interessieren mag, was mein Gerechtigkeitspuls pocht, hatten die Serbien-Apologie-KritikerInnen recht oder die Gegenteiler, hat er ihn überhaupt verdient, den Preis, die Beachtung, unsere Zeit, wenn wir seine Worte, Sätze, Bücher lesen. Wie unwichtig erscheint das vielen, wie wichtig erschien es mir. Er hat es verdient, auch wenn er stammelt, gerade wenn er stammelt. Weil er so stammelt. Was aber genau macht er, was ist seine Schriftstellerei, sein Autortum. Worin ist sie, ist es relevant für die Welt, bleibt vielleicht, ist dadurch nachhaltig. Das neue Buch, ein Büchlein fast, so schmal, wirft Licht, Frühlingslicht auf die Frage. Verwirrendes Licht, Handke setzt sich der Verwirrung aus. Die Wut auf die Beleidigung der Mutter, sie hat sich, 51 Jahre war sie alt, selbst getötet, verzweifelt, wie alle Selbsttötung aus Verzweiflung geschieht, er schrieb auch dazu ein Buchbüchlein, „Wunschloses Unglück„, es sei sein am meisten autobiographisches, realistisches, sagt er später, so erschüttert war er. Ein Jugendphoto der Mutter wurde später in eine Hitlerjubelgruppe montiert, das hat ihn empört, im wirklichen Leben, in der Maigeschichte wird aus der Empörung ein Lebendtraum, ein Wuttraum, ein Vernichtungstraum. Die Wutseite des Peter Handke, die Serbienseite, die Ihr-könnt-euch-Bosnien-in-den-Arsch-stecken-Seite des Peter Handke, die Gruppe-47-Aufmisch-Seite. Er schoß nie. Er tötete nie. Er ohrfeigte einmal sein Kind, das ging ihm nach. Aber die Wut war in ihm. Die Wut auf den prügelnden Stiefvater. Die Wut auf die Hitlerei, auf die Geistlosen, die Nachredner, die Lauten dort, wo das Leise leben muss, damit es überlebt. Das ist sein neues kleines Buch, der Wuttraum verliert sich an Blaise Pascal, an der Schönheit, an Überraschungsbegegnungen, an der Realität. Ist es gut, wenn die Wut ihren Ausdruck findet, Handke als Wortwutbürger, dürfen wir Mitgefühl haben, Mitleid mit seiner Handkeseele.

Aber wer ist er. Da war doch ein Film. Nun wird er angeschaut. Die Welt will verstanden werden, Handke gehört zu ihr, so auf zum Versuch. „Peter Handke. Bin im Wald. Kann sein, daß ich mich verspäte“, eineinhalb Stunden Ruhigfilm, öffentlichrechtlich finanziert, nichts für jede und jeden, aber für viele und mich. Sein Verlag, der große Suhrkamp Verlag, findet ihn gut und bewirbt ihn. Eine fleißige Homepage liefert Informationen. Die Filmkritik hatte manches auszusetzen, zu hagiographisch nörgelte die FAZ. Das mag so sein. Handke nörgelte jedenfalls mit der Regisseurin, man spürt seine Aggression, wie kann man so ungebildet fragen, so unempathisch, so unhandkeisch, dann beherrscht er sich sofort, die Kamera läuft, es soll ein Film werden, irgendwie auch Werbung, zugleich ehrlich, die Frau bewundert mich ja, also sollte ich nett sein, ich kann das auch, ich kann das wirklich. Ja, er kann das. Ein feiner Mann. „Ich möchte eigentlich immer guttun“, sagt er im Film. Man glaubt ihm. Aber was glaubt man ihm. Lukas 2, 14, die Weihnachtsgeschichte, Peter Handke wuchs, wie ich, mit der katholischen Übersetzung aus dem Latein auf, den Menschen, „Frieden auf Erden den Menschen, die guten Willens sind“. Die Einheitsübersetzung, heute, aus dem Griechischen, hat den Blick umgekehrt, der Mensch wird zum Gnadenempfänger. „Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens“. Gnadenbrot, das ist nichts für Handke, er möchte sein Brot verdienen, es muss kein Schloss sein, kein Luxus, schön muss es sein, künstlerisch, poetisch, Fensterkreuze, Muscheln, Holz, Nachhaltiges. „Die herzliche Erwärmung des Vorhandenen“, auch das ein Satz aus dem Handkefilmmund, so stelle er sich sein Werk vor, wirkliche Dichtung, nicht Nachzeichnung der Welt, nicht ihr Verlassen, ihren Mehrwert will er sehen, der Mensch als Welterwärmer, als Weltsonne, kleine Weltsonne. Der Film blickt zurück auf ein Leben vieler Worte, vieler, vieler Bücher, Auftritte, Theaterschnipsel, Filmschnipsel, Mitte 70 war er, seine Frau Sophie tritt auf, einfühlend, ein Glück für ihn, zwei Töchter, er hat ein Herz und lebendige Worte. Doch er braucht den Rückzug, die Zeit mit sich und den Muscheln, den Stiften, den Birken, den Nadeln, den Bildern aus dem Inneren. Das können wir alle von dieser poetischen Existenz lernen, die poetische Existenz.