Ich hass dich – am Ende von 2022

Michael Opielka – 31. Dezember 2022

Der ISÖ-Blog darbt seit einiger Zeit. Das hat Gründe. Es ist nicht so, dass wir nichts zu sagen haben, nicht forschen, nicht beraten, sozusagen im Ruhestand sind. Der Hauptgrund für die Blogpause war das Zukunftslabor, genauer, sein Fehlen. Anfang 2020 hatte die damalige Jamaika-Koalition im hohen Norden des Landes unser wichtigstes Projekt zu töten versucht. Sie hat, vertreten durch das liberale Sozialministerium, das Projekt gekündigt und uns gezwungen, vor den nordischen Gerichten die Zerstörung einer wissenschaftlichen und politischen Großhoffnung zu verhindern. Fast drei Jahre arbeitet der Rechtsweg schon und noch immer ist kein Ergebnis da. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten alle längst in anderen Projekten oder woanders. Mit Neujahr 2023 tritt das Bürgergeld in Kraft, die Ampel-Koalition auf Bundesebene hat es als eine Art Grundeinkommen very light durchgesetzt, wir haben es analysiert und kommentiert. Doch das, was mit dem Zukunftslabor versprochen und vereinbart wurde, eine langfristige Vorausschau der Sozialpolitik unter systematischem Einbezug von Grundeinkommen und Bürgerversicherung, ökonomisch simuliert, das fehlte in der öffentlichen Diskussion. So blieb der Ampel nur Handwerk und vielen nur Mundwerk.

Ich wechsle nun vom Wir zum Ich, denn die Verbindung von Grundeinkommen, Sozialer Nachhaltigkeit und Zukunftsforschung prägt zwar die Programmatik des ISÖ, doch sie prägt in besonderem Maße auch meine Biographie. Was Dich bewegt, macht Dich verletzlich und wer Dich verletzen will, muss Dich einfach dort treffen. Der erzwungene Stopp des Zukunftslabor Schleswig-Holstein hatte mich daher auch persönlich getroffen, meine ohnehin geschundenen Augen in einen folgenreichen Alarmzustand versetzt und verletzt. Ich hatte und habe also gute Gründe, auf die Personen und auf die Partei, die das Zukunftslabor nicht nur für Deutschland, sondern auch für mich jedenfalls bisher zerstörten, wütend zu sein. Ganz vermeiden ließ sich das nicht. Doch mein Über-Ich, mein Gewissen oder Wertefirmament, ließ diese Gefühle der Wut nie lange zu. Waren die Akteure, der liberale Minister und sein Staatssekretär, die grüne Finanzministerin, der desinteressierte grüne Umweltminister nicht auch Gefesselte ihrer Weltsicht, Menschen mit guten Absichten, die eben nur unseren guten Absichten im Wege standen. Und schon wird durch Empathie, durch Verstehen aus Wut Verständnis und, zumindest in glorreichen Momenten, die Liebe, die Paulus in Korinth allen als höchste Tugend empfahl. Sublimierung nannte das Freud, eine Kulturleistung, freilich, es kann auch Abwehr sein, Angst vor dem nötigen Konflikt, der Grat ist schmal.

Das alles kommt mir in den Sinn, wenn ich an gestern denke. Mein Enkel, acht Jahre alt, saß hinten im Auto. Wir fuhren zum Museum König, es war sein Vorschlag, es wird eindrucksvoll, die Natur ist so voller Wunder. Auf den kurzen Fahrten darf er die Musik bestimmen, neuerdings bin ich im Familien-Account von Deezer, dem Spotify- und Amazon Music-Konkurrenten. Die Tochter von Charlotte Knobloch sitzt nun dem Verwaltungsrat vor, neben ihrer Präsidentschaft des Festivals in Cannes. Ich schreibe das, was ich gestern Abend im Spiegel las, damit nicht Eindruck entsteht, ich liefere meinen Enkel dem Musk- oder sonstigen dunklen Imperien aus. Er habe zwei neue Lieder, verkündete er, er wolle sie der Playlist hinzufügen, mir, dem Opa, stolz vorführen. Dann lief die Musik, German Hip-Hop, „Ich hass dich“, oh je, mir schwante Übles, ich kannte weder Nina Chuba noch den Rapper Chapo102. Von wem kennst Du das, fragte ich. Einer seiner Freunde, gestern war er bei ihm, es ist sein Lieblingslied, er kenne den Text fast schon auswendig, der Freund, er muss ihn also oft gehört haben oder ein auditives Genie sein. Mein Enkel liebt die Wiederholungsschleife, viel spricht für sie, ich verstehe den Text und gefriere. Eine Hass-Hymne zum Jahresausklang, die Achtjährige fasziniert: „Hummerschwanz und Kaviar verschwinden im Colgate-Lächeln / Fünfundsiebzig-Stunden-Job und nebenbei noch Wale retten / Würd dir gern die Nase brechen, auch wenn’s sich nicht lohnt / Denn dein Daddy ist dein Anwalt und dein Onkel ist Chirurg“. Ich glaub ich hass dich, so tourt der Refrain, da schimpft einer oder eine über den, dessen Herkunft ihn privilegiert. Der sich auch noch um die Umwelt kümmert. Ich glaub, ich hass dich. Ich sorge mich um das Seelenheil des Nachkommens und hebe zur Erklärung an. Das mit dem Nasenbrechen sei unmöglich, gerade in diesem Jahr, solche Lieder spielen sie in Russland auf Putins Geheiß, damit die Russenkinder die Ukrainer töten, ohne Mitgefühl. Mein Enkel wird traurig, aber nicht wegen der Ukrainekinder, er wird verzweifelt, ich stoppe die Welterklärung. Sie gelingt hier nicht. Wir atmen durch, die Stadtautobahn nach Bonn ist nicht überfüllt. Vielleicht habe ich den Text falsch verstanden, biete ich den Friedenshandschuh. Lass es uns nochmals hören, mehrmals, damit ich verstehe, was dir daran so gefällt. Es ist lustig, sagt er, ich nehme das nicht wörtlich, auch Achtjährige sehen viel. Nicht schlecht gemacht, die Musik, nichts für mich, aber Respekt, teils melodiös, nicht zu viel Krawall. Und eben Neid, Wut auf die da oben. Piketty und Marx für Kleine. Später werde ich recherchieren und mich wundern. Der öffentlichrechtliche WDR preist in 1Live den Song. Auch andere loben: „Chuba und Chapo102 thematisieren mangelnde Chancengleichheit und soziale Unterschiede“, Gesellschaftskritik als Ohrwurm, müsste das nicht mein Herz erwärmen, wäre das nicht etwas für die nächste Sozialpolitik-Vorlesung. Wie soll ein Achtjähriger das beurteilen. Aber auch: was sollen wir als Erwachsene tun, können wir dort, wo wir das könnten, das Leben schön reden und schreiben, wie das Roberto Benigni so wunderbar gelang? Sony produzierte den Nasenbrecher-Song, preist das Zuschlagen.

Dass ich heute, an Sylvester, das Jahr mehr als gerne zu Ende gehen sehe, es war in so vielem kein gutes Jahr, aber auch andere Jahre waren nicht nur gut, jedenfalls nie für alle, das Zukunftslabor und einen Hit für Achtjährige zusammenschaue, ist eine unklare Antwort an die Zeit. Natürlich müssen sich die Ukrainerinnen und Ukrainer wehren. Und warum soll man nicht wütend sein dürfen auf den Egoismus der Wohlhabenden, die ihren Wohlstand grinsend mehren, während ein Bürgergeld nur die Notdurft sichert. Warum soll ich mich am Jahresende nicht über eine liberale Partei ärgern, die die Erbschaftssteuer senken und die überfällige Vermögenssteuer verhindern will, zugleich aber das Zukunftslabor tötete. Ich weiß ja, dass die Wut verrauchen wird, dass sie verrauchen muss mit den Böllern und Raketen, die die bösen Geister vertreiben sollen. „Ein jegliches hat seine Zeit“, heißt es bei der Fiktion des König Salomo in Prediger 3, Vers 14.