Grüne Grundsätze ohne Grundeinkommen? Die Lehren aus dem Zukunftslabor

Michael Opielka – 7. Juli 2020

Am 26. Juni 2020 stellte der Bundesvorstand der Grünen den Entwurf eines neuen Grundsatzprogramm online: >„…zu achten und zu schützen…“ Veränderung schafft Halt.< lautet der poetische Titel, mit dem die Robert Habeck-Hälfte der Grünen-Spitze auf ihre Sprachkunst verweist. Es ist normalerweise nicht die Art des ISÖ ohne Auftrag Programmpapiere von Parteien öffentlich zu diskutieren. Doch es muss Ausnahmen geben können, wenn es einen konkreten Bezug zu Forschungen des ISÖ gibt. Diesen Bezug gibt es. Von Ende 2018 bis „eigentlich“ Anfang 2021 sollte das ISÖ das „Zukunftslabor Schleswig-Holstein“ koordinieren und wissenschaftlich begleiten. Im Februar 2020 war damit plötzlich Schluss. Die Landesregierung hat den Vertrag gekündigt, dem ISÖ per Gerichtsbeschluss verboten, die bereits veröffentlichungsreife zweite Studie aus dem Zukunftslabor – „Zukunftsszenarien und Reformszenarien“ – zu veröffentlichen und kurz danach selbst einen Bericht vorgelegt, mit dem die Forschung des ISÖ und seiner Partner, wie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), öffentlich als unwissenschaftlich gedemütigt wird. Mit den juristischen Fragen werden sich die Anwälte und Gerichte beschäftigen. Politisch relevant ist freilich, dass die Grünen als einer der drei Partner der Jamaika-Koalition das Zukunftslabor nicht nur auf den Weg gebracht haben – Robert Habeck führte die Koalitionsverhandlungen. Ohne Zustimmung der Grünen hätte es auch nicht gestoppt werden können. Auch deshalb lohnt sich aus ISÖ-Sicht die Lektüre des Grundsatzprogrammentwurfs. Was haben die Grünen aus dem von ihnen selbst initiierten Zukunftslabor gelernt?

Zunächst einmal das Positive. Der Programmentwurf umfasst 58 Seiten und man/frau sollte schon einmal zwei bis drei Stunden einplanen, um ihn gründlich zu lesen und zu verstehen. Die Lektüre lohnt sich. Es ist kein Zufall, dass kluge Soziologen wie Andreas Reckwitz oder Hartmut Rosa die Grünen für den politischen Ausdruck der Zeitforderungen halten. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, hätte er in Berlin zweihundert Jahre überlebt, würde den Grünen vermutlich zusprechen, die Zeit auf den Gedanken zu bringen. So liest sich der Text fast durchweg zustimmungsverdienend. Man kann nicht gegen die Vernunft sein ohne selbst unvernünftig zu sein. Gut, da und dort merkt man den Entwurfscharakter, fehlende Konsistenz, holprige Formulierungen, mal zu wenig, mal zu viele Worte. Aber insgesamt verdient der Entwurf empirisches und normatives Lob. Wobei das mit dem empirischen Lob schon schwieriger ist. Grundsatzprogramme legen sich nie genau fest, sie bedürfen stets der Interpretation. Dennoch, schauen wir uns das Zukunftsszenario einer Gesellschaft an, die sich an das hält, was das Grundsatzprogramm vorschlägt, dann lässt sich das durchaus praktisch vorstellen. Es entwirft keine Utopie im Unmöglichland.

Aber WissenschaftlerInnen sollen nicht zu viel loben. Das klingt schnell nach Parteilichkeit und damit nach Verlust der Werturteilsfreiheit, die seit Max Weber gerne gepriesen wird. Sinnvoll erscheint mir jedoch transparente Werturteilskritik, also eine nachvollziehbare Reflexion vor allem von impliziten Werturteilen – auch im eigenen Denken. Schauen wir also kritisch, genährt auch durch den Erfahrungshorizont des Zukunftslabors, auf den Grundsatzprogrammentwurf. Ich möchte auf das Wesentliche konzentrieren und auf dem Weg nur ein paar Nebenwege berühren.

Einer der Nebenwege ist für das ISÖ eigentlich der Hauptweg, nämlich die Soziale Nachhaltigkeit. In §13 heißt es: „Daher muss ökologische Politik soziale Interessen immer miteinbeziehen.“ Das klingt logisch, aber abstrakt. Wäre es nicht richtiger, die sozialen Interessen „der Schwächeren“ zu betonen? §14 ist sehr schön formuliert, verständlich. Aber vielleicht wäre es richtig, nicht nur an den vielen anderen, sondern auch an dieser Stelle zwei Fremdwörter einzuführen, also zu schreiben: „Internalisierung von sozialen und ökologischen Folgekosten, statt weiterhin nur ihre Externalisierung“?

Der zweite Nebenweg findet sich in §91, dort heißt es: „Wir streben ein Wirtschafts- und Finanzsystem an, das im Sinne einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft …“ Hier wird also die „soziale Marktwirtschaft“ von CDUCSUSPDFDP erweitert. Nicht so ganz neu, wie ein Blick in die Programme allein der CDU und CSU zeigt. Wenn man den grünen Entwurf weiter studiert, dann will er eigentlich kein Wirtschaftssystem als „Marktwirtschaft“, sondern eher eine Mischwirtschaft, eine Mixed Economy aus Marktwirtschaft, Gemeinwirtschaft und Staatswirtschaft. Jetzt kann man sagen: das wollte die „soziale Marktwirtschaft“ immer schon. Aber vielleicht täte es den Grünen ganz gut, das auch genauer zu sagen, sich also nicht hinter dem Rücken der alten Eliten zu verstecken.

Der letzte Nebenweg sind die Minderheiten, die unterdessen die Mehrheit sind. Frauen werden konsequent gegendert, auch wenn sich das nicht immer schön liest. Warum aber in §187 nicht von „Muslim*innen“, sondern plötzlich – und nur hier! – von „Muslimas und Muslimen“ die Rede ist, weiß wohl nur Allah. Ausführlich werden die queeren Begriffe und selbst ein „Romno-Hintergrund“ ausgeführt. Menschen mit Beeinträchtigung werden aber konsequent als „Menschen mit Behinderung“ geführt, allerdings nur selten, viel Aufmerksamkeit genießen sie nicht. Es passt zwar nicht so ganz zu diesem Nebenweg, aber dass im Programm von Plebisziten, von Referenden gar nicht mehr die Rede ist, sondern nur noch von „Bürgerräten“ (§237), passt in das identitätspolitische Kalkül von Großstadt-Grünen.

Jetzt also zum Hauptweg als Lehre aus dem Zukunftslabor. Er findet sich in den §§ 279 bis 281. Darüber steht „Soziales Netz“. Darin steht zum Beispiel: „Soziale Leistungen erfolgen nach dem Prinzip der Bedarfsgerechtigkeit“ (§279, Satz 1). Wo haben die Grünen denn das her? Das stimmt zwar, wenn man auf die Sozialhilfe bzw. das System „Fürsorge“ schaut. Aber weder die „Sozialversicherungen“, noch die Systeme „Versorgung“ oder „Bürgerversicherung“ folgen dem Prinzip „Bedarfsgerechtigkeit“, sondern anderen Prinzipien wie Leistung, Statussicherung oder Teilhabe. Warum also wird das Fürsorge-Prinzip hier zum Standardprinzip geadelt? Im nächsten Satz wird das nicht klarer, da heißt es: „Sie orientieren sich an gruppenspezifischen .. Bedürfnissen“. Das ist ganz merkwürdig, für die Sozialpolitikkundigen wird hier das konservative, das sogenannte „korporatistische“ Prinzip beschworen: Statusgruppen organisieren sich ihre Gruppensicherung, Universalismus wird abgelehnt. Ist das das neue grüne Prinzip?

In §280 wird die Sozialpolitiktheorie noch mehr gefordert. Da heißt es: „Die Garantiesicherung schafft neben dem Existenzminimum die Möglichkeit zu sozialer und kultureller Teilhabe.“ Jetzt ist der Begriff „Garantiesicherung“ noch nicht so im Volksmund verankert, dass man ihn nicht erläutern sollte. Wie er aber hier erläutert wird, ist mysteriös. Was hier steht heißt wohl, dass das „Existenzminimum“ eben nicht zu „sozialer und kultureller Teilhabe“ ausreicht. Oder es heißt das Gegenteil, dass sie eben alles macht, Minimum und Teilhabe zugleich. Was aber ist die „Garantiesicherung“? Das Papier, das Robert Habeck 2018 vorgestellt hat und das wir in diesem Blog schon einmal recht kräftig diskutierten?

Zu guter Letzt, in §281 heißt es: „Existenzsichernde Sozialleistungen sollen Schritt für Schritt zusammengeführt und langfristig soll die Auszahlung in das Steuersystem integriert werden.“ Der Leser denkt: aha, die Grünen wollen langfristig eine „Negative Einkommensteuer“, ein „Bürgergeld“, das wollte doch auch die FDP. Aber vielleicht wollen die Grünen das gar nicht, sondern ist mit dem Paragraphen das Götz-Werner-Modell gemeint, also die Integration des Grundeinkommens in das Konsumsteuersystem, eine gigantische Erhöhung der Mehrwertsteuer und dafür ein Grundeinkommen für alle? Oder noch etwas anders: vielleicht meinen die Grünen doch ein „richtiges“ Grundeinkommen, das entweder in Höhe des Existenzminimums oder als „partielles“ Grundeinkommen ohne Wohnkosten wie das Kindergeld ausgezahlt wird und nur logisch als Freibetrag im Steuersystem auftaucht, also die klassische „Sozialdividende“? Oder muss man das Wort „Steuersystem“ eher metaphorisch lesen, so wie künftig mit der SPD-„Grundrente“, die auf innovative und wohl ziemlich komplizierte Weise Steuer- und Sozialversicherungssystem vermischt? Wäre dann auch eine Bürgerversicherung mit Grundeinkommen, also eine „Grundeinkommensversicherung“ von diesem Grundsatzparagraphen gemeint?

Die Grünen hatten in Schleswig-Holstein ein „Zukunftslabor“ auf den Weg gebracht (www.zlabsh.de). Leider haben sie es erstmal mit beendet. So ist alles durcheinander. Das ISÖ ist aber nicht durcheinander. Wir haben im Zukunftslabor tapfer eine Delphi-Studie durchgeführt, als die politischen Akteure recht gefordert schienen. Dabei kam sehr Nützliches heraus. Zumal das ISÖ mit seinen Partnern aus ziemlich langer Erfahrung ein sehr differenziertes Tableau von Zukunftsmodellen der Sozialen Sicherung eingespielt hat, das vom DIW berechnet werden sollte. Dazu kam es erstmal nicht. Aber das ISÖ bleibt optimistisch. Gedanken sind frei, das Denken auch, und vielleicht findet sich ja schneller als gedacht jemand, der die Berechnungen bezahlt, die zur Klarheit sehr beitragen werden. Bis dahin loben und kritisieren wir.